Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
Wirklichkeit zurück. Plötzlich wurde Pendergast aktiv, er lief hinüber zu dem Jungen und kniete neben dem Sofa nieder. Er packte die Hand – sie war brennend heiß – und tastete den Puls. Schnell und unregelmäßig. Der Junge hatte Fieber und phantasierte. Wahrscheinlich hatten sich die Stellen, an denen er selbst Amputationen vorgenommen hatte, infiziert.
Pendergast erhob sich, drehte sich um und sagte rasch: »Vielen Dank, Mr. Franklin. Sie müssen nicht die Polizei rufen. Ich lasse sofort einen Arzt kommen.«
»Jawohl, Sir.« Franklin und der Doorman verließen die Wohnung.
Pendergast wandte sich zu seiner Haushälterin um, die ihm aufmerksam zugeschaut hatte. »Miss Ishimura, bitte holen Sie Verbandszeug, eine Schüssel mit heißem Wasser, antibiotische Salbe, Waschlappen und eine Schere – und bringen Sie alles ins Rote Zimmer.«
Miss Ishimura lief los. Pendergast schob die Arme unter den Jungen und hob ihn hoch – er war schockierend dünn –, trug ihn in die innere Wohnung und legte ihn in einem kühlen, nicht genutzten Schlafzimmer mit Blick auf den Innenhof des Dakota auf ein Bett. Der Junge fing an zu plappern, zitterte am ganzen Leib. Pendergast zog ihm die schmutzige Kleidung aus und schnitt sie, wo nötig, auf, dann inspizierte er die Wunden, wobei er mit dem Ohr begann. Das Ohrläppchen war nicht mehr ganz vorhanden, der Rest passte nur allzu deutlich zu jenem Stück, das beim ersten Leichnam zurückgelassen worden war. Eine hässlich aussehende Wunde, die sich zu infizieren drohte. Der fehlende Finger war in noch schlechterem Zustand, der Knochen lag frei, und die Wunde am amputierten Zeh war aufgeplatzt und blutete stark. Der Junge hatte offenbar mit dem verletzten Fuß eine lange Wegstrecke zurückgelegt.
Miss Ishimura kam mit der Waschschüssel und einem Waschlappen herbei; Pendergast wischte dem Jungen das Gesicht sauber. Abermals holte die Handbewegung ihn in die Realität zurück. »Vater … hilf mir …«
»Ich bin da«, sagte Pendergast. »Alles ist gut. Du bist in Sicherheit.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. Er spülte den Waschlappen aus und tupfte das Gesicht trocken. Endlich kehrte Miss Ishimura mit einem Tablett zurück, darauf Verbandszeug, ein Antibiotikum und weitere medizinische Utensilien.
»Nicht meine Schuld … bitte, mein Gott, bitte, gib mich nicht auf …«
Behutsam wusch Pendergast den verletzten Finger, säuberte die Wunde, trug Salbe auf und legte einen frischen Verband an. Als Nächstes widmete er sich dem Zeh, der in weitaus schlimmerem Zustand war, da er trotz aller Bemühungen weiter blutete, aber er wusch und verband ihn trotzdem und legte einen Mullverband an. Währenddessen stöhnte und wälzte sich der Junge unruhig hin und her und murmelte immer wieder: »Nicht meine Schuld …«
Als Pendergast fertig war, stand er auf. Einen Augenblick lang war ihm schwindlig, und Miss Ishimura packte ihn am Arm, damit er nicht stürzte. Sie führte ihn beinahe wie ein Kind aus dem Zimmer auf den Flur und bedeutete ihm, sie werde übernehmen, er solle sich nicht mehr um den Jungen kümmern, sondern in sein Arbeitszimmer gehen und sich ausruhen.
Er nickte wortlos und ging den Flur entlang zu seinem Arbeitszimmer, schloss die Tür und lehnte sich kurz dagegen, um nicht hinzufallen und um Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Dann ging er zu seinem angestammten Sessel, ließ sich darauf nieder, schloss die Augen und versuchte mit äußerster Willensanstrengung, seine wirbelnden Gefühle in den Griff zu bekommen.
Es gelang ihm, Herzschlag und Atmung allmählich auf Normalniveau zurückzuführen.
Es handelte sich hier um ein Problem wie jedes andere. Es musste als solches behandelt werden: als Problem.
Mein Sohn – der Hotel-Mörder.
Er griff zum Telefon und wählte eine Nummer. »Dr. Rossiter? Aloysius Pendergast hier. Sie müssen einen Hausbesuch machen, in meiner Wohnung im Dakota. Ein kranker Junge, mit mehreren offenen Wunden an amputierten Gliedmaßen. Er wird operiert werden müssen, und wie immer möchte ich Sie bitten, dass Sie Ihre Dienste mit absoluter Diskretion versehen …«
29
C aptain Laura Hayward ging raschen Schritts den Mittelgang der Grundschule PS 32 entlang, ihr Ziel: die Aula der Schule. Im Herbst hatte es eine Welle von Hassdelikten gegen Obdachlose gegeben – Schlägereien, Raub, sogar einen Fall, bei dem ein mittelloser Mann von jugendlichen Rowdys im Riverside Park in Brand gesteckt worden war –, weshalb Hayward vom
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