Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
Polizeipräsidenten beauftragt worden war, den Schulkindern die schwierige Lage der Obdachlosen und die Wirklichkeit des Lebens auf der Straße bewusster zu machen. Auch Obdachlose sind Menschen, lautete ihre Botschaft. Im Laufe der vorausgegangenen Wochen hatte sie an einem halben Dutzend Schulen gesprochen, und die Reaktion war zufriedenstellend ausgefallen. Sie hatte das Gefühl, wirklich etwas bewirkt zu haben. Thema ihrer Magisterarbeit war die soziale Struktur einer unterirdisch lebenden Obdachlosen-Gemeinde in New York City gewesen, und sie hatte Monate damit zugebracht, diese Menschen zu beobachten, ihr Leben kennenzulernen, sich ihre Probleme anzuhören, zu versuchen, ihre Lebensgeschichten, Beweggründe und Herausforderungen zu verstehen. In den vergangenen Jahren hatte die normale Polizeiarbeit sie allerdings derart in Beschlag genommen, dass sie ihren Magister in Soziologie kaum nutzbringend anwenden konnte, aber jetzt stellte er die ideale Vorbereitung für ihr Vorhaben dar.
Als sie um die Ecke bog, kam ihr überraschenderweise D’Agosta entgegen.
»Vinnie!«, rief sie und versagte es sich, ihm einen Kuss zu geben, da sie beide im Dienst waren. »Was machst du denn hier?«
»Ehrlich gesagt suche ich nach dir. Ich war gerade in der Gegend. Wir haben etwas zu besprechen.«
»Und wieso konnten wir das nicht beim Frühstück besprechen?« Er machte einen besorgten und ein wenig schuldbewussten Eindruck. Er hatte etwas auf dem Herzen, das war ihr schon seit Tagen bewusst. Aber bei derlei Dingen durfte man Vinnie nicht drängeln – man musste einfach warten, bis er bereit war, sich zu öffnen. Und dann musste man die Gelegenheit nutzen, bevor er es sich anders überlegte.
Sie sah auf die Uhr. »In zehn Minuten muss ich meinen Vortrag halten. Komm, wir können in der Aula reden.«
D’Agosta folgte ihr über den Flur und durch eine doppelflügelige Tür. Dahinter befand sich ein Raum im Stil der 1950er Jahre, mit einem Balkon und einer großen Bühne, die Laura an die Aula ihrer Highschool erinnerte – an die nachmittägliche Schularbeitenhilfe, die Atomkriegsübungen und die Filmvorführungen für die gesamte Schule. Der Raum war bereits halbvoll mit Schülern. Laura und D’Agosta nahmen in der letzten Reihe Platz.
»Okay«, sagte sie und drehte sich zu ihm um. »Was ist los?«
Einen Moment lang brachte er keinen Ton heraus, dann sagte er schließlich: »Es geht um Pendergast.«
»Das überrascht mich nicht.«
»Ich mache mir große Sorgen um ihn. Er hat eine wahnsinnig schwere Zeit durchgemacht, und jetzt führt er sich seltsam auf – sogar mir gegenüber.«
»Erzähl doch mal.«
»Nach dem Tod seiner Frau hat er sich in seine Wohnung zurückgezogen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich selbst therapiert, wenn du weißt, was ich meine – die harten Sachen genommen hat.«
»Was für Sachen?«
»Ich weiß nicht, welche Drogen genau, aber ich hatte das schreckliche Gefühl, dass es sich um eine kalkulierte Form von Selbstzerstörung handelte, eine Art Vorlauf zum Selbstmord. Ich habe deinen Ratschlag befolgt und ihm das Dossier zum Hotel-Mörder-Fall gegeben, damit er darüber nachdenken kann. Das scheint ihn total verstört zu haben. Erst war er völlig apathisch, dann wie besessen von dem Fall. Er ist am Tatort des dritten Mordes aufgekreuzt, hat sich selbst für den Fall eingeteilt und ist jetzt der Schrecken von Agent Gibbs. Ich sage dir: Er und Gibbs sind auf Kollisionskurs. Ich glaube, es liegt daran, dass Pendergast derart am Boden zerstört ist, dass er sich Gibbs zum Feind macht. Ich meine, ich hab ja schon erlebt, wie er Leute gepiesackt, sie auf die Palme gebracht hat, aber bislang gab es immer einen Grund dafür.«
»O verdammt. Vielleicht war meine Idee ja doch nicht so toll.«
»Ich bin noch nicht zum schlimmsten Teil gekommen.«
»Und der wäre?«
»Pendergasts Theorie des Verbrechens. Sie ist bizarr, um es höflich auszudrücken.«
Hayward seufzte. »Lass mal hören.«
Wieder Zögern. »Er hält seinen Bruder Diogenes für den Hotel-Mörder.«
Hayward runzelte die Stirn. »Ich habe gedacht, Diogenes ist tot.«
»Das glauben alle. Nur, Pendergast will mir nicht sagen, warum er seinen Bruder für den Mörder hält. Es ist so grotesk. Ich mache mir wirklich Sorgen, dass er seit dem Tod seiner Frau nicht mehr alle Tassen im Schrank hat.«
»Welche Beweise hat er?«
»Keine, die ich kennen würde. Wenigstens keine, die er mir verraten hat. Aber ehrlich gesagt
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