Penelope Williamson
er den Verband. »So, jetzt kannst
du dich wieder anziehen.«
Während Delia das tat, ging er zu einem Tablett, das auf dem
niedrigen Teetisch stand. Aus einem Zinnkrug füllte er Wein in einen Becher und
trat damit an den Schreibtisch.
»Delia, wie immer du dich entscheidest, es ist nicht unwiderruflich,
das heißt, solange ihr, Nat und du, nicht verheiratet seid. Du kannst jederzeit
in Falmouth ein Schiff in Richtung Westen nehmen. Natürlich nicht in den
Wintermonaten, wenn die Bucht zugefroren ist. Wenn wir in Merrymeeting sind,
und du stellst fest, daß du es dort nicht aushältst und daß du Nat nicht
ausstehen kannst oder er dich nicht, wirst du auf meine Kosten nach Boston
zurückgebracht.«
Delia schnitt in seinem Rücken eine Grimasse. Großer Gott, er
redete über sie wie über eine Ware.
Für nicht gut befunden. An den Absender
zurück.
Tyl rührte die zerstoßenen Blätter in den Wein und brachte ihr den
Becher. »Trink das.«
Sie betrachtete den Becher mißtrauisch. »Was
ist das?«
»Das nimmt dir die Schmerzen.«
Als sie ihm den Becher aus der Hand nahm, berührten ihre Finger
seine, und es durchzuckte sie heiß von Kopf bis Fuß. Aber wenn er bei der
Berührung ebenfalls etwas empfunden hatte, so ließ er sich nichts davon
anmerken.
Sie leerte den Becher und gab ihn zurück. Sie wollte sich mit dem
Handrücken den Mund abwischen, aber ihr fiel gerade noch rechtzeitig ein, daß
sich das nicht schickte.
»Also ...«, sagte sie verlegen. »Hm, wann ...?«
»Sei morgen früh um acht Uhr hier. Ich weiß, du hast nicht viel
Zeit, aber ich sollte schon längst auf dem Rückweg sein. Die Reise dauert
schließlich etwa drei Wochen.«
Drei Wochen!
Delia hatte nicht geahnt, daß Merrymeeting
soweit weg sein würde. Der Gedanke an die Wildnis erfüllte sie plötzlich mit
Angst. Aber die Aussicht auf einen Neuanfang, auf ein neues Leben, auf ein eigenes
Zuhause und auf einen Mann, der für sie sorgte, der sie brauchte und auf sie
wartete, weil er mit zwei mutterlosen Kindern allein war ... all das reizte sie
an Merrymeeting.
Sie hob den Kopf und blickte in seine dunklen
Augen.
Du gehst nur seinetwegen, rief leise eine innere Stimme, die sie
nicht zum Verstummen bringen konnte.
»Also dann ... bis morgen«, sagte Delia.
An der Tür blieb sie stehen, weil er fragte: »Was ist mit deinem
Vater? Wenn du ihm sagst, daß du ihn verläßt, wird er dann nicht..?«
Sie lächelte und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Deshalb
muß ich mir heute abend keine Sorgen machen. Wenn ich zurückkomme, liegt er
schon im Bett und schnarcht.«
Auch er lächelte, und ihr Herz begann wieder heftig zu klopfen.
»Dann bis morgen«, sagte er. »Aber bring nicht mehr mit, als du tragen kannst.«
Sie lachte und fühlte sich plötzlich wundervoll frei und
glücklich. »Kein Angst, Doktor«, rief sie spöttisch, »was mir gehört, kann ich
mühelos tragen.«
3
Als Tyler Savitch das Frühstück sah, das vor ihm auf dem Tisch stand,
verzog er das Gesicht – Stockfisch in einer dicken, mit viel Pfeffer gewürzten
Buttersauce und Rühreier. Angeblich war das eine Spezialität des Roten Drachen.
Aber nach einem kurzen prüfenden Blick und einem vorsichtigen Schnuppern
rebellierte sein Magen energisch dagegen.
Er blickte sich suchend in der leeren Gaststube nach dem Kellner
um, der das ungenießbare Zeug wegnehmen und ihm etwas Vernünftiges bringen
sollte, etwa Maisgrütze oder getoastetes Brot. Tyler wollte gerade aufstehen,
um sich auf die Suche nach einem dienstbaren Geist zu machen, als von der
Eingangshalle lautes Geschrei hereindrang.
»Laß los, verdammter Kerl! Du Idiot, ich habe dir doch gesagt, daß
er mich erwartet!« schimpfte eine Frau mit schriller, durchdringender Stimme.«
Ein Mann stieß laute Flüche aus, aber die
Frau übertönte ihn. Tyler erkannte die Stimme. Wie konnte es auch anders sein?
Schließlich hatte sie ihn die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen lassen.
Die Tür wurde aufgerissen, und Delia McQuaid stürmte herein. Mit
der einen Hand hielt sie einen schäbigen Strohhut auf ihrem Kopf fest, und in
der anderen hatte sie einen halb gefüllten Sack. Sie trug dieselben fleckigen
und schmutzigen Sachen wie am Abend zuvor und darüber einen mottenzerfressenen
Wollumhang, der aussah, als habe sie ihn aus dem Abfall gezogen.
Sie setzte sich mit einem lauten Seufzer ihm gegenüber und stellte
den Sack neben der Bank auf den Boden. Vermutlich befand sich darin alles, was
sie besaß – abgesehen
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