Penelope Williamson
spannungsgeladener wurde, hob er
schließlich den Kopf. »Was beschäftigt dich, Delia? Heraus mit der Sprache!«
»Hast du wirklich Menschen skalpiert, als du bei den Indianern
warst?«
Er hatte diese Frage früher oder später erwartet. Wenn Frauen
hörten, daß er zehn Jahre bei den Abenaki gelebt hatte, fanden sie das meist
eher aufregend als beängstigend. Zu Tyls Verwunderung hatte er dank seiner
indianischen Vergangenheit oft schneller Frauen erobert als durch alle anderen
Verführungskünste.
»Ja, ich habe Menschen skalpiert«, antwortete er und dachte, ihre
Augen würden groß vor Entsetzen werden.
Nichts dergleichen geschah. Sie fragte eher sachlich: »Hast du
auch Weiße skalpiert?«
»Eine Yengi-Frau.«
»Was?«
»Für die Abenaki sind die Weißen Yengis, das bedeutet, die Stummen.«
Als sie ihn verwirrt ansah, fügte er lachend hinzu: »Die Abenaki machen sich
über die Weißen lustig, weil die meisten nicht wissen, wann es besser ist zu schweigen.«
»Ach so ... Du hast also eine Yengi-Frau skalpiert?« fragte sie
noch einmal.
Er sah sie nur stumm an und musterte sie mit
halb geschlossenen Augen. Delia wirkte nicht entsetzt oder erschrocken,
sondern eher verwirrt. Sie schien Mühe zu haben, den mordenden Indianer, der er
nach eigenem Eingeständnis gewesen war, mit dem kultivierten Arzt in Einklang
zu bringen, als den sie ihn kannte. Plötzlich hatte er nur den einen Wunsch:
Sie sollte beide Teile seines Wesens, den Indianer und den Weißen, verstehen
und akzeptieren.
Er zog die Stirn in Falten, starrte ins Feuer und dachte: Was kann
mir daran liegen, was dieses Mädchen aus einer Hafenkneipe von mir hält?
Es war ihr schließlich auch gleichgültig gewesen, was für Männer
ihre Kunden im Goldenen Löwen gewesen waren, denen sie sich für ein paar
Schillinge hingegeben hatte.
In Wahrheit war es ihm jedoch wichtig, was sie über ihn dachte. Er
seufzte und sah sie ernst an.
»Delia ... ich habe nie eine Frau getötet.«
»Aber du hast Männer getötet und skalpiert.«
»Ja, allerdings keine Yengi. Das lag aber nur daran, daß mein
Stamm zu der Zeit, als ich alt genug war, um ein Sannup, ein Abenaki-Krieger,
zu sein, keine englischen Siedlungen überfiel. Damals herrschte ein großer
Krieg gegen die Erie-Stämme. Wir kämpften vor allem gegen die Mohawk. Es war
Krieg, Delia. Und in jedem Krieg geht es nur darum, den Feind zu töten ...« Ihm
wurde plötzlich bewußt, daß er sein Indianerleben rechtfertigte, und er
schwieg ärgerlich. Er hatte sich vor langer Zeit geschworen, daß er sich nie
der zehn Jahre schämen werde, die er bei den Abenaki verbracht hatte. Als er
ihre großen Augen auf sich gerichtet sah, sagte er: »Bald danach begann das
Leben bei meinem Großvater.«
»Aber wie war das ...«
»Psst ...« Er legte ihr den Finger auf die Lippen. »Genug jetzt.
Geh schlafen. Du mußt morgen ausgeruht sein.« Ihr Mund war warm, feucht und
unglaublich weich unter seinem Finger. Sie schien seinen Kuß zu erwarten, aber
er wußte, wenn er seinen Gefühlen nachgab, dann würde er es nicht bei einem Kuß
bewenden lassen.
Delia war unberechenbar. Tyl muße sich
eingestehen, daß er sie immer noch nicht richtig verstand. Er wollte auf keinen
Fall einen Streit oder Handgreiflichkeiten in Anwesenheit der Hookers riskieren.
Deshalb sagte er noch einmal entschieden: »Schlaf jetzt, Delia!« Zu seiner
Enttäuschung gehorchte sie ihm.
Tyl lehnte
sich auf dem Stuhl zurück, kippte ihn auf die Hinterbeine und zündete sich
eine Pfeife an. »Sie haben ein schönes Stück Land«, sagte er zu Silas Potter,
ihrem Gastgeber. Es war zwei Tage später, und sie waren Merrymeeting fünfzig
Meilen näher gekommen.
»Ich kann das Meer beinahe riechen«, erklärte Caleb, der neben ihm
saß.
Silas Potter freute sich über das Kompliment
und nickte. »Das Meer ist direkt hinter dem Hügel.« Die Anhöhe war mit Kiefern
bewachsen, hinter denen gerade die letzten Sonnenstrahlen verschwanden. Auf
der anderen Seite erstreckte sich die Küste des Atlantiks. Wenn sich Tyl
konzentrierte, glaubte er, das dumpfe Rauschen der Wellen zu hören.
Der Farmer saß mit den beiden Gästen auf der Veranda seines
Blockhauses. Er hatte gerade damit begonnen, das Land urbar zu machen, und ein
großes Maisfeld angelegt, das bis zu den Bäumen reichte. Nach der Maisernte im
Herbst würde er den Wald bis zur Anhöhe roden und die Baumwurzeln entfernen.
Das Blockhaus bestand aus einem einzigen Raum. Aber Silas Potter
hatte sich
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