Penelope Williamson
vielen
Giebeln, Erkerfenstern und breiten Veranden in der Oktobersonne. Die verwitterten
Schindeln wirkten wie die Schuppen einer uralten Schlange.
Eine Spinne hatte ihr Netz über
eine schmiedeeiserne Ranke gewebt. In den feinen Fäden hatten sich bis jetzt
nur einige wenige Tautropfen verfangen, doch sie funkelten wie Diamanten. Shay
hob die Hand und wollte das Spinnennetz zerreißen, damit nichts mehr die elegante
Symmetrie der Torflügel störte, doch er ließ es sein.
Statt
dessen packte er die Stäbe mit beiden Händen, stieß das Tor auf und ging über
die lange Auffahrt mit den weißen zerstoßenen Muschelschalen. Er hatte sich
immer für einen Mann gehalten, der sich durch nichts einschüchtern ließ. Aber
diesmal brauchte er all seinen Mut, um nicht umzukehren und davonzulaufen. Das
Herz in seiner Brust hämmerte so heftig, daß es ein Wunder schien, wenn es ihm
nicht ein paar Rippen brach.
Zwar
rechnete er nicht damit, Emma zu sehen, doch sein Blick glitt trotzdem suchend
durch den Garten mit den großen Tontöpfen, den Nymphen und dem Springbrunnen
aus Marmor. Er sehnte sich nach dem Anblick einer jungen Frau in weißem Batist
und mit einem Strohhut, dessen breites blaues Band im leichten Wind flatterte.
Als er schließlich an die große Kassettentür aus Ebenholz klopfte, hatte er
sich nicht sehr anstrengen müssen, um in Gedanken ihren Duft einzuatmen und ihr
Haar in seinen Händen zu fühlen. Die Tür wurde geöffnet.
Gleich werde ich Emma sehen.
Sie wird lächeln und sagen ... »Sir?« begrüßte ihn ein Mann mit verkniffenem
Mund und hochmütig hochgezogenen Augenbrauen.
Shay
nannte ihm seinen Namen. Der Besucher, der ihn am Abend zuvor aufgesucht hatte,
wollte eine Antwort. So überraschte es ihn nicht, als er sofort durch die
Eingangshalle mit dem Fußboden aus schwarzem und weißem Marmor ins Innere des
Hauses geführt wurde.
Als Shay
zuvor hier gewesen war, hatten ihn andere Dinge in Anspruch genommen. Die
prunkvollen Gegenstände in diesem Haus hatte er nie eines Blickes gewürdigt.
Doch diesmal sah er zu der girlandengeschmückten Kuppeldecke hinauf,
betrachtete die kannelierten Säulen mit ihren schimmernden Goldverzierungen,
staunte er über die imposante breite Eichentreppe und bewunderte den großen
goldgerahmten Kristallspiegel über dem mächtigen Kamin aus weigern Marmor. In
einer Ecke stand sogar eine glänzende Ritterrüstung. Als Junge in Gortadoo
hätte er sich so etwas niemals vorstellen können, wenn er mit Donagh
>Ritter und Bauer< spielte. Der Mann mit dem verkniffenen Mund führte ihn
in einen Raum, dessen Wände über einer weißen, vergoldeten Täfelung mit gelbem
Seidendamast bezogen waren. Eine Frau mit blaßblonden Haaren war passend zu der
üppigen Ausstattung in ein gelbes Kleid aus einem so steifem Stoff gekleidet,
daß sie zu rascheln schien, obwohl sie sich nicht bewegte.
Die Frau,
Emmas Mutter, saß an einem mit geschnitzten Rocaillen verzierten Sekretär und
schrieb mit einem Federhalter aus Elfenbein etwas auf ein goldgerandetes Blatt
Papier. Sie wartete, bis die Ormolu-Uhr auf dem Kaminsims zehnmal getickt
hatte, bevor sie aufblickte und ihn zur Kenntnis nahm. Shay hatte noch nie
einen Menschen mit so blauen Augen gesehen.
»Ich habe
Sie erwartet, Sir«, sagte sie leise und gedehnt. Shay mußte unwillkürlich an
schwüle Nächte und warme Winde denken. »Ich bin jedoch gerade dabei, die
Speisekarte für heute abend zusammenzustellen. Wenn Sie bitte so freundlich
wären, einen kleinen Augenblick zu warten ...«
Sie griff mit einer Hand, die so weiß und anmutig war wie
der Flügel einer Taube, wieder nach dem Elfenbeinfederhalter. Sie saß auf einem
Stuhl, in dessen Rückenlehne eine kleine, ziselierte Silberuhr eingelassen
war. Shay hatte in seinem ganzen Leben noch nie etwas so Wunderbares gesehen.
Diese Uhr war sehr schön, aber was nützte es, eine Uhr an einem Platz zu haben,
dem man immer den Rücken zukehrte, so daß man sie nie sehen konnte?
Die Uhr, dachte er, ist wie so
vieles in Emmas Welt – schön, bezaubernd und auf seltsam verdrehte Art
nutzlos.
Emmas Mutter war schließlich
mit ihrer Speisekarte fertig und widmete ihm wieder ihre Aufmerksamkeit.
»Also?
Offenbar war unser erstes Angebot nicht hoch genug«, sagte Bethel. »Sie haben
sich gesagt, direkt zur Quelle zu gehen sei vielleicht der leichtere Weg, um
mehr zu bekommen, nicht wahr?« Shay erwiderte ihren Blick. Es war nicht so, daß
er die Frage nicht verstanden hätte, im
Weitere Kostenlose Bücher