Penelope Williamson
Stimme lag Staunen.
Maddie hob
den Kopf und begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln, das es mit den Kerzen
am Baum aufnehmen konnte. »Sieh mal, Emma, Stuart ist zu Weihnachten nach Hause
gekommen.«
»Und hat
auch Geschenke mitgebracht«, sagte Stuart. Emma sah, wie er Maddies Hand
ergriff und die Spieldose auf ihre Handfläche stellte. Die Melodie wurde
langsamer doch die beiden schienen es nicht zu merken. Stuart blickte in
Maddies Augen und strahlte. Sein Lächeln überwand Tiefen, Abgründe, Welten und
unvorstellbare Räume.
Der Blick, mit dem sie ihn ansah, ging noch weiter.
Wie sehr sie ihn liebt, dachte Emma.
Wie sehr habe ich Shay geliebt.
Einunddreißigstes Kapitel
Die Leute in Bristol nannten den April das >Tor zum
Frühling<. Es war die Zeit, wenn der Schnee mit feuchtem Klatschen von den
Ästen der Bäume fiel und das Eis der Bäche mit krachenden Schlägen barst, die
lauter waren als alle Feuerwerkskörper am Vierten Juli. Die jungen Farne und
Blumen streckten die Köpfe aus der sich erwärmenden Erde, und die Blätter von
Buchen und Birken begannen sich zu entrollen.
Emmas
Frühling kam so langsam wie die Schneeschmelze. In den ersten Wochen des neuen
Jahres ging sie noch oft zum Collins-Teich. Sie wollte nicht Schlittschuh
laufen, sondern nur die irischen Jungen beim Eisschießen beobachten. Sie machte
sich keine Hoffnung, Noreen wiederzusehen, aber das hielt sie nicht davon ab,
dorthin zu gehen. Das ungestüme Lachen der Jungen faszinierte sie und wie sie
über das Eis flitzten ohne Angst vor Spalten und eingefrorenen Ästen, die sie
zu Fall bringen konnten. Emma schmerzte es, die törichte Tapferkeit
mitanzusehen.
Sie brachte
es deshalb nie über sich, lange zu bleiben. Schon nach kurzer Zeit kehrte sie
mit dem Bewußtsein einer stillen, aber bedrükkenden Feigheit nach Hause zu den
vertrauten Dingen ihres Alltags zurück – zu Geoffreys begütigender Stimme, wenn
er sich mit ihr unterhielt, zu seinem zuverlässigen starken Arm, auf den sie
sich stützte. Sie flüchtete zum Anblick der schwarzen, kahlen Birken vor dem
weißen Winterhimmel und zum Geruch des nassen Tons in der alten Orangerie –
jeden Morgen bereitete sie den Ton vor, als sei sie wirklich eine Bildhauerin,
die sich ernsthaft ihrer Kunst widmen würde.
Emma wagte
es nie, etwas mit den Ton zu formen, aber sie knetete das weiche
Material viele Stunden lang. Wenn der Ton weich, warm und feucht wie etwas
Lebendiges durch ihre Finger glitt, entfachte er in ihr eine seltsam lodernde
Unruhe. Es war wie die Kraft der leidenschaftlichen und kühnen Freiheit, die
sie im Lachen der Schlittschuhläufer gehört hatte. Dann überkam sie die
Enttäuschung, daß sie ihre Angst nicht besser überwinden konnte.
Eines
Morgens im März – das tauende Eis tropfte von den Zweigen der Birken, und die
Sonne erschien blaßrosa und klein am weißlich-blauen Himmel – faßte Emma beim
Aufwachen den Entschluß, Brias Töchter zu besuchen. Sie hatte ihrer Freundin
ein Versprechen gegeben, und das mußte sie halten. Aber Emma fuhr nur bis zum
schmiedeeisernen Tor. Dort wendete sie den Wagen und befahl den Stallburschen,
das Pferd wieder auszuspannen.
Am
Nachmittag schneite es wieder – ein letzter Sieg des Winters. Emma stand am
Schlafzimmerfenster und beobachtete die Schneeflocken, die auf den
schweigenden Wald fielen. Sie wünschte sich, die vergangenen Monate wie die
Birken im Winterschlaf verbracht zu haben, um dann mit geheiltem Herzen und
vergessenen Ängsten wieder zu neuem Leben zu erwachen.
Es verging
einige Zeit, bevor sie es wagte, den Wagen wieder anspannen zu lassen. Diesmal
fuhr sie durch das Tor, obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug und ihre Hände
in den Handschuhen feucht wurden. Emma fuhr bis zur Kreuzung von Union und
Thames Street. Dort zügelte sie das Pferd und betrachtete aus sicherer
Entfernung Brias Haus.
Der
Anblick der kleinen armseligen Hütte auf dünnen Pfählen erfüllte sie mit
Entsetzen. Wie konnte sie so klein sein und doch so viel bedeuten? Wie konnte
diese Hütte so vielen Dingen Platz bieten? Wie konnte dort das ganze Herz einer
Frau liegen? Emma blickte auf das Haus, und alles, was zerbrochen war, geriet
plötzlich in Bewegung, ballte sich und tat so weh, daß sie laut nach Luft
rang.
Dorthin gehöre
ich, dachte Emma.
Sie gehörte in die Küche mit
der verblichenen Tapete und dem abgetretenen Linoleum. Sie gehörte zu der
Familie, die zum Essen an dem Tisch mit der braunen Wachstuchdecke saß, und
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