Penelope Williamson
ausgedacht!«
Die alte
Frau stieß einen tiefen Seufzer aus. »Die arme, gelbsüchtige Amelia ... Da
steht sie in der Zeitung: Dahingerafft in der Blüte ihrer Jahre.«
Geoffrey beugte sich über die
in weiße Spitzen gehüllten Schultern seiner Großmutter, um die Todesanzeige
genauer zu studieren. Die Zeitung zitterte in den knochigen Händen der alten
Frau, aber er sah genug. »Hier steht, sie war dreiundneunzig.«
»Ja, die
arme Seele, sie starb in der Blüte ihrer Jahre. Aber man weiß ja schon lange,
die Attwaters sterben jung. Außer mit Nierensteinen wurde in dieser Familie
noch niemals jemand Härte bewiesen.« Draußen fuhr ein Windstoß durch die
blühenden Linden. Gelbe Blütenblätter flogen an den Fensterscheiben vorbei, und
wieder erfaßte Geoffrey diese eigenartige unbestimmte Traurigkeit, als habe
sein Herz irgendwo eine weiche Stelle.
»Wahrscheinlich wird es heute
nachmittag regnen«, hörte er seine Großmutter sagen. »Es weht ein starker
Westwind, und Westwind bringt immer Regen.«
Geoffrey
lächelte und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. »Ja, ja ...«, murmelte
er und nickte, aber es würde nicht regnen. Seine Großmutter hatte ihr Leben
lang Wind und Wolken beobachtet, und sie hatte immer Regen prophezeit.
Er überließ die alte Frau ihren
Todesanzeigen und ging wie jeden Tag in die Bibliothek, um sich vor dem
Mittagessen den häuslichen Angelegenheiten zu widmen.
Die
Bibliothek war ein besonders schöner Raum mit kunstvoll geschnitzten und
schwarz lackierten Pilastern aus Kiefernholz, das so verziert war, daß es wie
schwarzer, goldgeäderter Marmor wirkte. Den großen geschwungenen Kamin mit
einem echten schwarzen Marmorsims flankierten Glassteine von Tiffany. Geoffrey
betrachtete die Bibliothek als sein Heiligtum.
Deshalb war er verstimmt, als
er bemerkte, daß jemand in seinem William-Morris-Lehnstuhl an seinem Mahagonischreibtisch
mit den vergoldeten Beschlägen saß.
Stuart
Alcott lehnte sich in dem Stuhl weit zurück, schob sich die Haare aus den Augen
und schlug die Beine in den Stiefeln auf dem grünen Filz der
Schreibtischunterlage übereinander. Er hielt ein geschliffenes Waterford-Glas
in der Hand.
»Du meine Güte, Geoffrey!« rief
er. »Was ist denn mit dir los? Du siehst ja schrecklich aus.«
Diese
Feststellung verwirrte Geoffrey, denn er fühlte sich ausgezeichnet.
Abgesehen von dem Anflug von Melancholie, den die blühenden Linden
hervorriefen, war seine Welt in Ordnung. Nichts hätte besser sein können.
Sein Bruder dagegen ... das war
etwas ganz anderes, das heißt, es war das alte Lied. »Du bist betrunken«, sagte
Geoffrey, »und es ist gerade erst Mittag.«
Stuart hob
das Glas und prostete ihm spöttisch zu. Er versuchte zu lächeln, aber es gelang
ihm nicht. »Gin mit Limonensaft. Das vertreibt die Grippe.«
Ihr Vater
hatte den damals neunzehnjährigen Stuart in die Anstalt in Wharton bringen
lassen, um ihn von der Alkoholsucht zu heilen. Als er neun Monate später durch
die schwarzen Gittertore in die Freiheit trat, kam er nicht nach Bristol
zurück. Er war sieben Jahre nicht zu Hause gewesen, nicht einmal zur Beerdigung
ihres Vater war er erschienen. Geoffrey sah, daß die Anstalt in Wharton seinem
Bruder nicht das Trinken abgewöhnt hatte; statt dessen schien ihm alle
Lebensfreude genommen worden zu sein.
Stuart nahm
eine Havanna aus dem Zedernholzkästchen, das auf dem Schreibtisch stand.
Geoffrey entging nicht, daß die Hände seines Bruders zitterten, als er die
Seidenpapierumhüllung der Zigarre entfernte und das eine Ende mit dem kleinen
Silbermesser, das an seiner Uhrkette hing, einschnitt. Stuart stand leicht
schwankend auf und stieß dabei gegen den Schachtisch mit den
Elfenbeinintarsien. Ein silberner Turm fiel zu Boden.
In dem hellen Licht, das durch
die Glastüren der Bibliothek drang, sah Geoffrey überdeutlich die glasigen
Augen und das unrasierte Kinn seines Bruders. Der Kragen des verschwitzten
Hemdes stand offen, und mit Entsetzen und Widerwillen bemerkte Geoffrey die
ausgefransten Kragenspitzen.
Als junger
Mann hatte Stuart eine Liebe für schnelle Segelboote und Rennpferde entwickelt,
den Gefallen an Champagner und Cocktails gefunden. Ihre Welt verlangte wirklich
nicht viel von den reichen Söhnen, abgesehen von guten Manieren und gepflegter
Kleidung. Aber selbst dazu war sein Bruder nicht mehr in der Lage.
Trotz allem,
wenn er in Stuarts gezeichnetes Gesicht blickte, entdeckte
er noch immer den draufgängerischen und von
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