Penelope Williamson
Phantasie fehlt.«
Geoffrey ärgerte sich etwas
über die Worte seines Bruders. Stuart verstand es immer, die Dinge so zu
drehen, als seien Zuverlässigkeit und Verantwortungsbewußtsein Charakterfehler.
»Und du«,
erwiderte Geoffrey, »hast stets die unglückliche Angewohnheit, deine
Übertreibungen und unberechenbaren Gefühle auf andere zu übertragen. Aber das
eine kann ich dir versichern, nur, weil du zwanghaft glaubst, gegen >unsere
Welt< rebellieren zu müssen, hegen die anderen von uns nicht insgeheim auch
ähnliche Absichten. Es entbehrt meiner Meinung nach nicht einer gewissen Komik,
daß du all das tust und dich dabei mit Gin aus einem Glas betrinkst, das mehr
wert ist, als einer meiner Arbeiter in einem Jahr verdient.«
Stuart
lächelte plötzlich und nahm noch einen großen Schluck. »Du hast natürlich
recht. Das Leben eines Rebellen ist nur in der Theorie romantisch.« Er lachte
höhnisch. »Und diesen Luxus kann ich mir vermutlich nicht erlauben. Das bringt
uns wieder einmal, und wie ich gestehe, zu Recht zum Thema Geld und damit zu
meinem Geldmangel ...«
Geoffrey
unterbrach ihn mit einer knappen Handbewegung. »Ich dachte, ich hätte meinen
Standpunkt in dieser Sache unmißverständlich klargemacht. Ich kann vor Ende
des Vierteljahrs nicht noch einen Scheck aus deinem Fondsvermögen ausstellen.
Als Treuhänder habe ich gewisse Pflichten, die mich zwingen, die Verfügungen im
Testament unseres lieben Vaters buchstabengetreu zu erfüllen, auch wenn ich
seine Haltung nicht unterstütze ...«
Stuart schlug mit der flachen
Hand heftig auf den Tisch. »Scheiß auf deine Pflichten! Scheiß auf dich und
ihn! Bei Gott, du bist so schlimm wie unser lieber Vater, so zugeknöpft
wie eine Nonne.« Er rang um Selbstbeherrschung und holte tief Luft. »Um Himmels
willen, Geoff, zwing mich nicht, um Geld zu betteln.«
Geoffrey griff nach dem
Tintenfaß, das bei dem Zornesausbruch seines Bruders wieder beiseite geschoben
worden war. Stuart hatte keinen Grund, ihn
so unflätig zu beschimpfen. Wenn sein Bruder zu
Lebzeiten ihres Vaters etwas
mehr Verantwortungsbewußtsein und Zuverlässigkeit bewiesen hätte –
Charakterfehler, wie Stuart es nannte –,
dann hätte der alte Alcott sein Erbe vielleicht nicht so sicher wie die
Unschuld einer Nonne geschützt. Aber dagegen konnte man nichts mehr tun ...
Geoffrey hob den Kopf, um das
seinem Bruder zu sagen, als die Tür der Bibliothek sich öffnete, und Emma
erschien.
Umrahmt vom silberhellen
Tageslicht war sie nur eine mädchenhafte Silhouette im Türrahmen. Dann trat sie
über die Schwelle, und er sah ihr Gesicht,
das unter der steifen Krempe ihrer Segelmütze im Schatten geblieben war, und
sein Herz schlug, wie jedesmal bei ihrem Anblick, vor Überraschung schneller.
Ihrer
Kleidung nach zu urteilen, kam sie geradewegs vom Segeln. Sie trug einen
marineblauen, mit Goldlitze besetzten Rock und ein Oberteil mit einem breiten
Matrosenkragen. Er fand sie einfach hinreißend.
Geoffrey sprang auf und eilte
ihr durch den Raum entgegen. Sie hatte leicht gerötete Wangen. Er hoffte, daran
sei nur der Wind schuld und nicht die vulgären Worte seines Bruders.
Glücklich über ihren
unerwarteten Besuch legte er ihr den Arm um die Taille und führte sie zu einem
dunkelbraunen Ledersofa. Er drückte ihr
direkt unter den Rippen die Hand in die Seite und spürte ihren Körper,
die sanfte Bewegung des Brustkorbs beim Atmen. Er fand, daß er sich die
Freiheit zu dieser intimen Berührung erlauben durfte. Mit der Verlobung schien es nur natürlich, daß er sie
nun öfter berührte und nicht mehr nur ganz förmlich. Aber er mußte trotz allem
vorsichtigen Abstand wahren, denn er begehrte sie sehnlicher denn je.
»Mein
Liebling«, sagte er, und seine Stimme klang unter dem Ansturm der Gefühle
leicht belegt. »Welch eine wundervolle Überraschung.«
Sie hob
das Gesicht und sah ihn an. Ihre rosige Haut schimmerte so zart und
durchsichtig wie eine Muschel im Meer. »Ich bin gerade in deiner Spinnerei
gewesen, Geoffrey. Es war ... mir fehlen die Worte, um darüber zu sprechen. Ich
hatte die ganze Zeit die entsetzliche Vorstellung, die Maschinen würden außer
Kontrolle geraten und die Kinder verschlingen.«
Die
Nachricht, daß sie von der Spinnerei kam, schockierte ihn, denn das war kein
Platz für eine zartfühlende Dame. Kein Wunder, daß sie zitterte. Der Lärm und
die Gerüche mußten sie bereits einer Ohnmacht nahe gebracht haben. Schuld
daran war nur die törichte Frau,
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