Penelope Williamson
oder ein
anderer Verwandter von Ihnen.« Emma verzog das Gesicht, um nicht zu lachen. »Er
ist ein entfernter Vetter. Er vertraut leider keinem Menschen Geld an, fürchte
ich. Mein Vater hat ihm einmal vorgeworfen, er sitze auf seinem Geld wie eine
Glucke auf den Eiern, als wolle er es ausbrüten.«
Bria
lachte. »Trotzdem, ich sollte meine Zunge besser hüten.« Sie deutete auf ihre
Töchter, die noch immer neben der Haustür standen und Emma anstarrten. »Habe
ich euch beiden nicht gesagt, ihr sollt das Geschirr abwaschen?«
Merry lief
summend zu Emma und hob beide Hände. Emma sah Noreen fragend an, die zu
übersetzen schien, was ihre kleine Schwester auf so seltsame Weise mitteilen
wollte. Noreen wirkte noch immer sehr abweisend. Ihre Hände hingen an den
Seiten herab und waren zu Fäusten geballt, als rechne sie damit, kämpfen zu
müssen. Es wird nicht leicht sein, ihr Vertrauen zu gewinnen, dachte Emma. Aber
Noreens Tapferkeit machte sie ihr sehr sympathisch. Merrys Summen wurde lauter
und klang schließlich schon fast wie ein Schrei. »Noreen«, sagte Bria zu ihrer
älteren Tochter, »hab Mitleid mit unseren Ohren und sag uns, was Merry will.«
Noreen
blickte Emma herausfordernd an, aber sie fügte sich gehorsam dem Befehl ihrer
Mutter. »Sie möchte, daß die Dame ihr die Hände wäscht.«
»Ich?« Emma
drehte sich um, als sei plötzlich noch jemand im Zimmer. Merry summte, nickte
und sprang auf einem Bein im Kreis herum.
Emma wurde bewußt, daß es in
dem Haus vermutlich weder ein Badezimmer noch eine Toilette mit Wasserspülung
gab. Sie sah auch keine Warmwasserleitung, sondern nur einen Waschstand mit einem
Vorhang aus gemustertem Kretonne und einem abgestoßenen Emaillewaschbecken mit
einem Krug.
Bria
füllte das Becken, während Emma die kleinen Hände des Mädchen in das Wasser
tauchte. Sie nahm etwas Seife und rieb damit sehr behutsam die kleinen Finger
zwischen ihren Händen sauber.
Merry summte. Es klang zuerst
sanft und angenehm, wurde aber immer erregter und lauter.
Das Wasser
war eiskalt. Die Seife enthielt Bimsstein und Lauge, und Emmas gepflegte Haut
brannte. Das Leinenhandtuch war steif wie ein Brett, denn es war am Herd
getrocknet worden, und roch nach Kohle. Aber für Emma schien das alles ohne
Bedeutung zu sein. Sie staunte darüber, daß sie ein so großes Glücksgefühl
empfinden konnte, nur weil sie etwas so Belangloses tat, wie diesem kleinen
Mädchen die Hände zu waschen.
Fünfzehntes Kapitel
Emma wunderte sich über sich selbst, wenn sie in dem Haus an
der Thames Street war. Wenn sie ihre neuen Freunde verließ und in das andere
Leben zurückkehrte, das Leben der guten Gesellschaft, dann überkam sie jedesmal
ein gewisses Unbehagen. In ihr festigte sich die Überzeugung, eine Zeitlang
erlebt zu haben, was es bedeutete, ein anderer Mensch zu sein.
Sie machte
den Kindern kleine Geschenke, verwöhnte sie mit Süßigkeiten und brachte ihnen
Haarbänder. Sie kaufte Bria eine Schachtel mit bestickten Taschentüchern und
einen Currier- und Ives-Druck von einem Dorf mit strohgedeckten Häusern, das
inmitten grüner Hügel lag. Darunter stand: >Das Leben auf dem Land<. Als
sie sah, wie Bria beim Anblick des Bilds vor Freude strahlte, hatte Emma das
Gefühl, ihrer Freundin gerade die ganze Welt geschenkt zu haben. Meine
Freundin ...
Emma wußte
nicht genau, wann die Freundschaft wirklich begonnen hatte. Vielleicht waren
sie von Anfang an Freundinnen gewesen, und sie hatten nur den Mut aufbringen
müssen, diese Freundschaft zu entdecken und sich einzugestehen.
Zwischen
den Gartenfesten und Teegesellschaften gönnte sich Emma ihre Besuche in der
Thames Street. Sie machte meist kein Geheimnis daraus. Manchmal fuhr sie
allerdings zu Bria, wenn ihre Mutter glaubte, sie sei segeln oder arbeite in
der alten Orangerie an ihren Plastiken.
Eines
Sonntags saß sie am Küchentisch und sah zu, wie Bria McKenna Merrys Haare mit
Petroleum auskämmte, um sie zu entlausen. In der Küche roch es nach
Seifendampf, denn Bria hatte in einem großen Kupferkessel Wäsche auf dem Herd
stehen.
»Sie
bekommen die Läuse in der Spinnerei«, erklärte Bria und verzog angewidert die
Nase. »Ich kann nichts dagegen tun, auch wenn ich ihnen noch so oft und
gründlich die Haare wasche.« Sie deutete mit dem Kamm auf Emma. »Ihr
Amerikaner, ihr prahlt ständig mit eurem Land, in dem Milch und Honig fließen.
Ich finde, ihr solltet die Wahrheit sagen und vom Land der Ungeziefer reden.«
Emma malte mit dem
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