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Per Anhalter (German Edition)

Per Anhalter (German Edition)

Titel: Per Anhalter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oke Gaster
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Es war der unheimlichste und zugleich befreiendste Moment in Mareikes Leben. Ein abstrakter Moment, der ihr wie eine Ewigkeit vorkam. Nadja weinte, ihr Vater weinte – und sie hatte sie zum Weinen gebracht.
     Sie kam sich vor wie jemand, der minutenlangen Applaus und Ovationen für etwas bekommt, dass er sich gar nicht selbst erarbeitet hat. Hinter einem Rednerpult, gefangen zwischen abklingendem Lampenfieber, genüsslichem Stolz und der zermürbenden Angst, dass eines Tages herauskommt, dass die ganze Rede nur geklaut war. So kam es ihr vor – und sie hatte Angst, jetzt nachgiebig zu werden. Sie hatte ihrem alten Herrn Dampf gemacht, den Code geknackt, sich nicht unterbuttern zu lassen, einfach so, doch wie sollte es nun weiter gehen? Was sollte sie als nächstes sagen? Sie war jetzt der Mensch im Mittelpunkt, und nicht wie sonst ihr Vater. Sie schluckte. Ihr Speichel schmeckte nach Tränen. Und der Moment wollte und wollte nicht enden… Ihr Vater fummelte wieder an seiner Mütze herum, die auf dem Tisch lag. Sie war sein einziger Halt in diesem Moment – seine Mütze – ein einfaches Käppi dass er irgendwann, vor hunderten von Jahren, mal auf dem Fischmarkt gekauft hatte. Sie war mit einer Möwe bestickt, die lachte und mit ihrem Flügel jedem, der Papa entgegenkam, zu winkte. Und das tat sie auch jetzt noch standhaft, wo er da saß und gar nicht mehr aufhören konnte zu weinen. Sie schaute auf die winkende, lächelnde Möwe und spürte, wie ein gewaltiger Ruck durch sie hindurch ging. Alles Leid dieser Welt schien sich gebündelt in ihr zu sammeln, aufzuplatzen, zu zerfließen, sich dann wieder zusammenzusetzen und in Form von Tränen aus ihr heraus gespült werden zu wollen. So albern es sich auch anhören mag, aber in diesem Moment hatte ihr die Möwe den Rest gegeben, respektive das Käppi, das ebenso durch und durch zu ihrem Vater gehörte wie der kleine Schuss Sahne im Kaffee, sein Humor, seine Liebe, die immer noch da war, auch wenn er es einem manchmal richtig schwer machte, seine weisen Worte und sein steter Perfektionismus. In diesem Augenblick wusste Mareike, dass ihr Vater immer alles für sie und die Familie getan hatte, für David ebenso wie für alle anderen, und dass er wirklich nur das Beste für sie alle wollte, auch wenn er es manchmal sehr ungeschickt, um nicht zu sagen tölpelhaft, verpackte. Sie wusste auch, dass ihr Vater diesen Anschiss verdient hatte, aber hatte er wirklich so hart sein müssen? Sie gab Nadja einen Kuss auf die Stirn, dann legte sie ihren Arm um den Hals ihres Vaters, nicht wissend, ob es richtig war oder ob sie damit schon wieder Schwäche zeigte, und sagte: „Komm mal her“ – sie beugte sich zu ihm nach unten drückte ihn.
    „Ich will doch nur das Beste für Euch…“ weinte er,
    „Ich weiß“ flüsterte sie.
    „Ich will doch nur dass es euch gut geht…“
    Warum tat er das? Ihr Herz brach erneut, während sie den Geruch ihres Vaters einatmete, der so intensiv und eigen war und doch nach nichts bestimmtem roch – nur nach Papa, so wie er schon immer gerochen hatte.
    Früher war er es, der mich getröstet hat , erinnerte sie sich. Ihr Vater streichelte über ihren Rücken. Minutenlang standen sie einfach nur so da, und waren immer noch genau so weit wie vorher.
     
    Irgendwann atmete ihr Vater schwer ein und  blies die Luft lange aus. Sein Gesicht war gerötet, doch er hatte alles in allem die gesündeste Farbe seit langem im Gesicht. Es war, als wäre dieses eine Mal so richtig losheulen wie ein Mittel zur Gesundung seiner Seele gewesen. Er war auf einmal total friedlich, trank einen Schluck Kaffee und zwinkerte ihr zu:
    „Meinst du, du kannst uns einen neuen aufsetzen? Der hier ist schon ganz kalt… Vom vielen Geheule…“ Er grinste, was sehr aufgesetzt wirkte und wohl auch aufgesetzt war. Ihm war nicht zum Grinsen zumute. Vermutlich hätte er noch stundenlang weiter heulen können, so viel Last lag auf ihm.
    Ihr ging es nicht anders.
    „Klar“ sagte sie.
    Nadja saß mit am Tisch. Sie war still und in sich gekehrt.
    Keiner aß von den Brötchen die sie extra gekauft hatte, stellte Mareike fest – und schon das reichte aus, dass sie fast wieder los geheult hätte.
    Als sie sich wieder an den Tisch setzte, nahm sie sich eines der Brötchen und schnitt es auf. Sie hatte überhaupt keinen Hunger, sie wollte sich eigentlich nur bei Nadja erkenntlich zeigen, wo sie doch schon von ihrem Opa so roh angefahren worden war. Es war ein unglaublich

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