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Per Anhalter (German Edition)

Per Anhalter (German Edition)

Titel: Per Anhalter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oke Gaster
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als aktiver Anwalt.
    Früher trug er die Waffe immer bei sich, musste sie jedoch zum Glück nie benutzen.
    Das Androhen von Repressalien gehörte damals für ihn zum Alltag, und er wollte im Falle eines Falles vorbereitet sein, denn die Leute, mit denen er zu tun hatte, waren zuweilen nicht gerade sanftmütige Zeitgenossen.
    Heute hatte er sie sich aus einem anderen Grund von Zuhause geholt, einem ganz persönlichem. Er hatte noch etwas zu erledigen, etwas ins Reine zu bringen. Privatvergnügen…   
    Die Anwaltszeit lag hinter ihm. Ehrlich gesagt konnte er sich nicht einmal mehr daran erinnern. Bei dem schlimmen Motorradunfall hatte er sich nicht nur zahllose Prellungen und Knochenbrüche zugezogen, er war auch noch arg mit dem Kopf gegen einen Baum geprallt und hatte monatelang im Koma gelegen. Das allein war nicht das Problem. Viel schlimmer war die Zeit zwischen dem Unfall und dem Eintreffen des Notarztes. Es hatte nur einige Minuten gedauert, doch wenn einem die Zunge im Hals steckt und das Gehirn keinen Sauerstoff mehr bekommt, reicht bekanntlich schon eine einzige Minute aus, um das, was einen Menschen einmal ausgemacht hat, unwiderruflich zu zerstören.
    Das Gedächtnis war eine Sache bei ihm. Die letzten Jahre waren einfach ausradiert. Er wusste nicht mehr, dass sein Sohn heute in Japan lebte oder seine Tochter längst verheiratet war. Dass sie existierten war ihm bewusst, aber dass sie nicht mehr zur Schule gingen überraschte ihn. Die Urlaube mit der Familie, der Bau seines Hauses, an dem er maßgeblich eigeninitiativ beteiligt war, all diese Dinge waren einfach weg. Es war, als ob diese Sachen auf einer externen Festplatte gespeichert waren und diese getauscht worden war.
    Das war das eine.
    Das andere, weitaus gravierendere Problem, war die Wesensveränderung. Die Unfähigkeit zur Empfindung von Gefühlen. Die Gleichgültigkeit - er war vorher in allen Belangen ein übergenauer Mensch - in Bezug auf sich selbst und seine Umwelt und das wie aus heiterem Himmel in ihm erwachte Aggressionspotential, in Begleitung mit einer vollkommen überzogenen Selbsteinschätzung. Das war der Grund, weshalb sich nach und nach alle von ihm abwandten, die ihn vormals geschätzt, geliebt oder gemocht hatten. Gelegentlich rief seine Tochter noch bei ihm an, aber das war´s auch schon. Gute Freunde und Bekannte hatte er mit seinen neuen Weltansichten, vor allem aber mit seiner Schroffheit, vergrault.
     
    Sie kamen im Guten und mit einer großen Ladung Verständnis, ließen sich mehrmals von ihm anpöbeln, verächtlich behandeln und sogar mit Obszönitäten beleidigen (und das in Kreisen, wo so etwas normalerweise tödlich ist. Man kannte sich vom Golf spielen oder von feinen Banketts im Rathaus…) – doch irgendwann war selbst beim letzten das Maß voll.
    Und es kümmerte ihn nicht einmal.
    „Ja, hau doch ab. Dann bin ich froh. Ich will auch gar keinen Verräter kennen!“ – solche und ähnliche Sätze kamen von ihm, nachdem seine Leute einfach nur versucht hatten, sich mit ihm zu unterhalten. Er erzählte ihnen von seinen utopischen Plänen oder erläuterte seine Verschwörungstheorien. Vornehmlich behauptete er, sein Bruder habe den Motorradunfall inszeniert, um ihn aus dem Weg zu räumen. Das Schlimme war, dass er das tatsächlich selbst glaubte und geradezu exzessiv mit der Wut und der Enttäuschung darüber lebte. Was heißt: Für ihn war das keine Mutmaßung. Es war seine Wahrheit. Für ihn war klar, dass sein Bruder eine Affäre mit seiner Frau hatte. Dabei hatten seine Frau und sein Bruder noch nicht einmal ein besonders inniges Verhältnis zueinander. Das hatten sie nie und hatten sie auch heute nicht. Diesbezüglich verstand niemand Spaß, denn alle wussten, wie sehr Birgit (seine Frau) nach dem Unfall gelitten hatte. Sie hatte manchmal ganze Tage an seinem Bett gewacht und wenn sie denn mal zu Hause war, hatte sie recherchiert, was zu tun war, welche Hilfen und Therapien es für später gab.
    Sie war todtraurig, krank vor Sorgen, telefonierte mit der Krankenkasse, den Behörden, regelte, machte und tat, war lange Zeit sogar arbeitsunfähig vor psychischer Erschöpfung wegen ihm und alles was er tat, war zu behaupten, sie hätte ihn belogen, ihn beschissen und ausgenutzt, um mit seinem Bruder ein Verhältnis anzufangen.
    Das stimmte schlichtweg nicht, aber er wollte es nicht wahrhaben.
    In seiner Welt war es so, und da brauchte ihm niemand was zu erzählen. Natürlich war er krank, und nur deshalb räumten

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