Per Anhalter (German Edition)
Verlegenheit bringen. Es war ohnehin schon alles schlimm genug. Was hat sie nur in der Hütte gemacht , überlegte er. Ob sie da den Jungen versteckt, nachdem die Bullen gefragt haben? Sie wollte nur etwas dort einlagern, aber nicht dort schlafen. Warum?
Sein Herz begann wieder zu stolpern. Es fühlte sich an, als hätte sein Brustkorb Schluckauf. Er war auf verschiedenste Weisen extrem erregt. Wut, Enttäuschung, Neugier... Und sogar Angst. Was, wenn da ein Toter drinnen liegt? Noch dazu ein totes Kind. In seinem ganzen Leben hatte Lolle nur eine einzige Leiche gesehen. Und zwar die von seiner Oma. Er erinnerte sich an den latent fauligen Geruch den sie verströmte und an die wächserne, fleckige Haut. Sie war schon drei Tage tot als man sie fand. Er bekam noch heute ein Ekelgefühl im Magen, wenn er daran zurück dachte. Der Anblick eines toten menschlichen Körpers war etwas ausgesprochen Abstoßendes, fand er. Er wollte so etwas am liebsten nie wieder sehen. Und schon gar nicht von einem Kind, zumal dieses Kind möglicherweise auch noch schlimm zugerichtet worden war.
Aber wenn die Bullen die Hütte durchsuchen und ihn da finden , argwöhnte er, dann habe ich erst Recht ein Problem. Und was für eins. Da liegt bestimmt noch mein Angelschein in der Hütte und was weiß ich was noch alles. Wenn die blöde Fotze oder ihr Fettarsch von Kind das Maul aufmacht und sich verplappert… Na wunderbar! Wieso hab ich mich darauf nur eingelassen?
„Verdammter Mist“ stöhnte er laut und stellte das Glas auf seinem Schreibtisch ab.
Viel Platz gab es darauf nicht. Ordnung war keine seiner Stärken. Für das Glas reichte es so gerade eben noch, aber für viel mehr auch nicht.
„Das heißt, ich muss da doch hin. Scheiße ey!“ Er sprach laut mit sich selbst und ging unruhig im Büro auf und ab. Der Ballantine entfaltete sanft seine Wogen aus Gleichmut in ihm. Alles wurde irgendwie weich und schwerelos. Bis ihm schließlich etwas ganz anderes in den Sinn kam. Vielleicht hat sie da gar keine Leiche versteckt, sondern Geld oder so. Aber das hätte sie doch mitgenommen. Nein, dass kann ich mir nicht vorstellen. Und wenn doch? Er haderte. Kurz hatte er daran gedacht, wenigstens nicht allein dort hinzufahren. Doch als er Dollarnoten im Kopf sah, nur die geringste Möglichkeit, dass dort Kohle liegen konnte, war die Verlockung hinzufahren auf einmal stärker als die Angst.
Die Auflage, sich nirgendwo außer in seinem Büro oder zu Hause aufzuhalten? Drauf geschissen!
Er nahm den Schlüssel für einen Mitsubishi Colt aus dem Schlüsselkoffer sowie zwei rote Nummernschilder. Anschließend schloss er das Büro und die Werkstatt ab. Hier war Feierabend für heute. Aber vielleicht war anderswo ja noch ein bisschen Kohle zu machen...
***
Unterwegs begann es wie aus Eimern zu schütten. Die Scheibenwischer der alten Mühle schafften es kaum, die gewaltigen Wassermassen zu verdrängen. Den ganzen Tag über hing schon diese bedrückend atemlose Schwüle über dem Land. Die Natur konnte den Regen mehr als gut gebrauchen. Der letzte richtige Guss lag schon fast 14 Tage zurück.
Lolle hingegen fand das jetzt eher nervig, da die Hütte ziemlich weit ab vom Schuss lag.
Ein idealer Ablageplatz für eine Leiche , spekulierte er, als er durch die schmalen, matschigen Waldwege fuhr. Und noch etwas fiel ihm wie Schuppen von den Augen: Britta hat genau darauf spekuliert. Ich hab ihr nämlich von der Hütte mal erzählt und dass ich da mit Oskar Angeln gehe. Das ist noch gar nicht lange her. Da wollte sie nämlich auch wieder ein Auto haben. Die brauchte gezielt etwas Einsames diese blöde Schlampe. Mit dieser Erinnerung schwand die Hoffnung darauf, in der Hütte Geld zu finden beträchtlich.
Und überhaupt: warum war er nicht direkt darauf gestoßen, dass sie doch, wenn sie für ein paar Tage Unterschlupf brauchte, ebenso gut in der Hütte übernachten konnte? Platz genug war da. Er verlangsamte das Tempo. Ihm war auf einmal nicht mehr wohl bei der Sache. Es war gerade einmal kurz vor halb zehn und die Nacht war noch in weiter Ferne, doch die Regenwolken über dem Wald verdunkelten alles ungewöhnlich stark. Er ließ das Auto ausrollen und überlegte noch einmal aufs Neue, ob er wirklich hinfahren sollte. Die Einsamkeit, das durch die Stille ringsherum extrem laute Prasseln des Regens, die schlimmen Befürchtungen die wieder aufkamen sowie die Dunkelheit gefielen ihm überhaupt nicht! Ich hätte man doch Frank anrufen sollen.
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