Per Anhalter (German Edition)
genaue Gegenteil verkehren kann, wenn wir konsequent unserer Arbeit nachgehen und nicht das Handtuch werfen.“ Sie erreichten den Glaskasten mit der Aufschrift „Raucherraum“. Ein stark untersetzter Mittfünfziger namens Wollny war gerade dabei, seine Kippe im Aschenbecher auszudrücken. Prozentual gesehen traf man ihn in 90% der Fälle hier an, wenn man nach ihm suchte. Es war eine Art zweites Büro für ihn.
„Na, da sind ja unsere Promis“ sagte er dümmlich lächelnd (Wollny konnte nur dümmlich lächeln. Dies lag vor allen Dingen an seinen schiefen Zähnen, die an den unteren Enden abgebrochen waren, und an seiner platten Schweinenase, die, wenn er lächelte, riesige Nasenlöcher offenbarte).
„Habt ihr die Schnalle? Also dass sie…?“,
„Noch nicht ganz“ erklärte Süßmuth.
„Top Secret wa?“,
„Jo. Top Secret!“,
„Reinhauen, Leute!“ Und da war Wollny verschwunden.
Jeder von den Dreien zündete sich eine Zigarette an. Sasetti und Plaschke nahmen auf der maroden, alten Ledercouch Platz, der Besen pflanzte sich auf einen der Holzstühle.
Verkehrt herum, wie ein aufmüpfiges Schulkind, mit gespreizten Beinen und die Hand unterm Kinn.
Gewöhnlich war dieser Raum ein Ort, an dem sich Kollegen dumme Witze erzählten, während sie das Frühstücksbrot noch nicht ganz geschluckt hatten und die Zigarette schon halb im Mund steckte. Hier gingen skurrile Storys herum, die die Nachtschicht an die Frühschicht weiter gab, oder die Frühschicht der Spätschicht. Doch Süßmuth, Sasetti und Plaschke saßen da und hingen ihren Gedanken nach. Ein paar unwirkliche Augenblicke, in denen jeder von den ihnen an seinem Glimmstängel zog und keiner ein Wort sagte.
Auf einmal jedoch fing der Besen an zu erzählen.
„Ward ihr eigentlich damals schon da, als das mit dieser Furie aus Elmschenhagen war?“ Plaschke hob die Hand. Er war schon da. Sasetti nicht. Er schaute sie neugierig an.
„Die hatte eine Liebesbeziehung mit ihrem Bruder. Liebesbeziehung , wenn man das so überhaupt nennen kann. Vier behinderte Kinder, eins davon schon tot, eingesperrt in der Vorratskammer.“,
„Ist nicht wahr?“,
„Na, und ob. Die war mindestens genau so schlimm wie diese Bennecke. Das war das Erste, an was ich gedacht hab, als ich sie vor mir sitzen sah.“,
„Die hatte mit ihrem Bruder eine Beziehung ? Und Kinder? Und sperrt die einfach weg?“,
„Die hat sie nicht nur weggesperrt, die hat sie sich selbst überlassen, sie wie Luft behandelt.“,
„Hammer!“,
„Hölle, oder? Ich war damals mit dabei als sie die Wohnung hochgehen lassen haben. Hat natürlich nie einer bemerkt, dass die Alte schwanger war oder dass es Bruder und Schwester waren.“,
„Ne, ne, das ist ja immer so!“,
„Ja“, Süßmuth schüttelte den Kopf und nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette.
„Toni, ich sage dir, das hast du noch nie erlebt. Die Kammer war dicht geschissen, vollgekotzt und vollgepisst. Lebensmittel bis zur Unkenntlichkeit verschimmelt auf dem Boden. Das war ne Kammer, nicht größer als ´n Plumpsklo. Und denn die Kinder da drinnen. Nackt bis auf die Knochen und starr vor Dreck.“,
„Wann war das denn ?“,
„Das ist schon ne Weile her…“,
„92, 93 so um den Dreh“, meinte Plaschke sich zu erinnern.
„Kommt hin. Lass das meinetwegen auch früher gewesen sein, ich weiß das nicht mehr.“,
„Da hab ich ja noch nie von gehört“ sagte Sasetti sichtlich angewidert und erschüttert. „Ich kann gar nicht glauben, dass sowas hier schon mal passiert ist.“,
„Na ja, was meinst du, Toni? All dieser kranke Scheiß passiert nicht nur in den USA “, meinte Plaschke,
„Nee, aber auch aus den Medien und so hätte man doch mal was gehört, oder? Das muss doch überregional Wellen geschlagen haben. Wenn nicht sogar international.“,
„Also hier in der Region, ja“ erklärte Süßmuth, „Hier war damals groß Entrüstung angesagt.“,
„Ich mein auch vor allem wegen den Kindern, eingesperrt in so ´ner Kammer. Das ist doch…“,
„Verwahrloste Kinder gibt es überall. Viel mehr als man meint. Wie oft hört man vom angeblichen Versagen des Jugendamtes und ob die Polizei nicht schon viel früher hätte eingreifen müssen und bla-bla-blubb. Inzest ist auch mehr als man denkt. Ich find grade hier im Norden“ sagte sie mit Blick auf Plaschke, nach dem Motto, sag du doch auch mal was dazu. Der aber zuckte nur mit den Schultern und meinte lapidar, „Ich weiß nicht ob es das hier mehr
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