Per Anhalter (German Edition)
welchem Zimmer sie sich gerade befand. Später stellte sich heraus, dass es das Badezimmer war. Als ihre Oma nach Hause kam empfing er sie an der Tür und erzählte ihr davon, was die Dirne heute wieder für einen Bock geschossen hatte. Es tut mir Leid, Illy, aber ich hab ihr so dermaßen eine gescheuert. Die kapiert das doch sonst nicht.
Und was tat ihre Oma?
Sie öffnete die Badezimmertür, sah sie in ihrem Blut da liegen und schüttelte den Kopf.
„Ich bin dermaßen enttäuscht von dir!“ Das war alles was sie sagte. Dann schlug sie die Tür zu.
Und dann fragt sie noch, warum ich mich nicht mehr melde…
All diese Erinnerungen – sie waren nur der Tropfen auf dem heißen Stein.
Da war die Sache mit ihrem Kaninchen (Mohrle), die Treffen bei diesen Leuten im Keller, die Tot- und auch die Lebendgeburten von jungen Frauen die geopfert wurden. Die vielen Hände von Männern und Frauen mit Masken, die sich an ihrem Körper vergingen, die sie bespuckten, bepissten oder sie zwangen Scheiße zu fressen, oder selbst ein Baby zu töten… Nicht zuletzt auch leibeigene Babys. Zwei Stück gebar sie in ihrer Kindheit. Eines mit 12 und eines mit 14 Jahren. Vielleicht von Klaus (Opa), vielleicht aber auch von einem der vielen anderen.
Beide musste sie eigenhändig umbringen, während die Meute gierig glotzend um sie herum stand. Irgendwann fing sie selbst an, andere zu quälen. Als Ventil für ihren Frust, und
Mit 20 gebar sie ihr letztes Kind - Sonja.
Doch so sehr sie sich anfangs auch darum bemühte, sie konnte für dieses Kind keine Liebe empfinden. Das hatte nichts (wie die Bullenschlampe-Neunmalklug behauptete) mit der durch perinatalen Sauerstoffmangel ausgelösten Hirnschädigung (der Grund für Sonjas Behinderung) zu tun. Es war etwas anderes.
Sie hatte sie nach der Geburt im Arm, ein Zeitpunkt, an dem sie noch nicht einmal in Ansätzen ahnte, welche Ausmaße die blaue Gesichtsfarbe ihrer Tochter bei der Geburt nach sich ziehen würde, und es war, als hätte ihr jemand eine vollgeschissene Windel auf den Bauch gelegt. Alles was sie fühlte war Abneigung. Und zwar innbrünstig!
Immer öfter ertappte sie sich selbst mit schlimmen Gedanken wenn das Baby nachts schrie und sie um den Schlaf brachte. Sie stellte sich vor, wie segensreich es wäre, wenn sie Sonja einfach erstickte. Oder sie aus dem Fenster warf. Oder verbrannte… Verflucht noch mal, es war ja nicht nur, dass sie keine mütterliche Zuneigung für ihr Kind empfand, sie hasste es sogar. Sie hasste es schon allein dafür, dass es auf der Welt war. Und sie hasste die anderen Menschen die immer blöde Grimassen an der Supermarktkasse machten und ihr zulachten, oder Sonjas Nase oder Wange tätschelten. Sonja war kein süßes Kind. Sie war schmutzig und ekelhaft. Am Anfang kamen ihr diese Gefühle ihrer Tochter gegenüber noch ziemlich befremdlich vor, doch das änderte sich im Laufe der Jahre. Der Mensch lernt mit seinen Gebrechen zu leben. Sie fand einen Mittelweg. So schwer es ihr auch immer fiel sich um Sonja zu kümmern – sie tat es doch. Sie gab ihr zu essen, zu trinken… und irgendwann Diazepam, damit sie wenigstens in den Nächten Ruhe vor dem kreischenden Balg hatte.
Eines Tages war ihr dann Mario über den Weg gelaufen.
Ich darf jetzt bloß nicht auch noch an ihn denken… Sie hatte rasende Kopfschmerzen bekommen. Das Licht, welches durch die gitterverzierten Fenster einfiel, war milchig und grau und genau so trist und öde wie die Zelle mit dem Wort Fotze an der Wand.
Mario war ein Idealist. Eine sprudelnde Quelle der tollkühnen Ideen.
Die Sache mit dem Bankraub war eine Schnapsidee gewesen.
Sie hatte damals gerade ihre Ausbildung zur Krankenschwester fertig und war seit ein oder zwei Jahren in einem festen Beschäftigungsverhältnis am Kieler Uniklinikum. Was Mario damals noch nicht ahnte – hier hatte die Bullenschlampe ausnahmsweise Recht – war, dass sie hier ein Doppelleben führte.
Auf der einen Seite war sie die freundliche Stationsschwester Nadine, auf der anderen Seite eine Killerin. Es war eine Sucht, ganz einfach, nicht mehr und nicht weniger. Eine Sucht oder besser gesagt ein Kick, so wie es für ihre Oma einst ein Kick gewesen war, ihre Enkeltochter mit ihrem neuen Freund zu vergewaltigen… Oder wie es für ein Kind ein Kick ist, sich heimlich am Süßigkeitenvorrat zu bedienen…
Immer nachts, wenn die stolzen Großeltern und überstolzen Papas und die über beide Backen strahlenden
Weitere Kostenlose Bücher