Per Anhalter (German Edition)
diesen Tag. Der Himmel war wolkenlos, es war nicht zu kalt und nicht zu heiß, ein perfekter Sommertag.
Und als sie diesen Jungen sah, war es erst recht ein perfekter Tag. Sie spürte ein Gefühl der Wonne in sich aufsteigen, wie sie es noch nie zuvor beim Anblick eines Kindes erlebt hatte, weder bei Lasse und schon gar nicht bei Sonja. Sie kurbelte das Fenster herunter und hielt an. Der Junge redete mit sich selbst und beachtete sie gar nicht. Er war ganz in sein Spiel vertieft.
Was genau mit ihr vorging – sie wusste es nicht.
Es war kein Gefühl, das man einfach so benennen konnte. Es war wie ein akuter Kurzschluss in ihrem Kopf.
Sie war ausgestiegen und auf den Jungen zugegangen, durch trockenes Gras, das unter ihren nackten Füßen knisterte.
„Hallo kleiner Mann“ sagte sie zu ihm. Er zuckte zusammen und riss vor Schreck die Augen weit auf. Sie ging weiter auf ihn zu. Das vernünftige Etwas in einem Menschen, dass den Namen Hemmschwelle trägt, war auf einmal wie ausgelöscht.
Es war verrückt was sie da tat, und sie war sich darüber auch im Klaren, aber sie bekam sich nicht dahingehend unter Kontrolle, dass sie auf ihre Vernunft auch nur ein winziges bisschen Gewicht legen konnte. Der junge Mann entpuppte sich als schüchternes Geschöpf. Er sah aus, als käme er sich ertappt vor. Der Stock, mit dem er kurz zuvor noch gespielt hatte, lag vor ihm im Sand, als rechnete er mit Ärger, weil er mit einem Stock gespielt hatte. Er hatte die Hände vor dem Bauch verschränkt und wirkte extrem angespannt.
Dabei sollte er doch nun wirklich keine Angst haben. Sie wollte ihn einfach nur mitnehmen… ihn behalten… ihn bei sich haben… und ihn verwöhnen, verwöhnen, verwöhnen… Weil er er war und weil er so unglaublich niedlich aussah.
„Ich sehe, du bist so schön am Spielen. Aber ich soll dich abholen.“ Sie hatte es sich kurzfristig ausgedacht. Was hätte sie sonst sagen sollen, um ihn dazu zu bewegen, sich in ihr Auto zu setzen? Sie hielt es für eine gute Idee. Der Junge jedoch zuckte nur wieder zusammen und schaute auf den Boden.
„Deine Mama hat mir gesagt, dass ich dich hier finde. Sie sagt, es ist etwas mit deinem Opa. Und weil sie zu ihm ins Krankenhaus musste und es sehr eilig hatte, hat sie mich gebeten, dass ich dich abholen und zu ihr bringen soll.“ Es war ein Spiel mit hohem Risiko – und sie hatte sich natürlich verzockt!
Der Junge schaute jetzt auf und sagte, „Stimmt ja gar nicht! Mein Opa ist schon gestorben wo ich noch klein war.“ Sie konnte sehr gut nachempfinden wie groß seine Angst war, und sie konnte diese Angst aus seinen Augen ablesen.
Runde 1 ging immerhin an den kleinen Jungen. Sie hätte fortlaufen können und es bei jedem x-beliebigen anderen Kind versuchen können. Aber das ging nicht , es musste dieser Junge sein. Warum, wieso, weshalb? Darauf gab es keine rationale Antwort. Sie wollte ihn . Ihn oder keinen, so einfach war das.
„Außerdem sagen meine Eltern immer, ich darf nicht mit anderen Leuten reden.“,
„Hör mal, vielleicht habe ich deine Mutter auch falsch verstanden. Vielleicht hat sie auch von deiner Oma gesprochen!“ Netter Versuch – aber der Junge war clever, er hatte sie durchschaut. Als sie immer dichter an ihn heran kam, trat er den Rückzug an.
„Ich fahr nicht mit Ihnen!“ rief er bockig. In Ansätzen war seine Stimme bereits von einer leichten Hysterie gekennzeichnet.
„Na, vielleicht habe ich mich ja auch geirrt!“ rief sie.
„Wie ist denn dein Name, junger Mann?“ Doch auch von diesem Versuch ließ er sich nicht vom Weglaufen abhalten. Er spottete: „Außerdem wohn ich gleich hier vorne. Dann saaag ich das meiner Mama dass Sie mich kidnappen wollten.“ Offen gesagt, und es war sicher nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass sie mit Sonja und Lasse zwei ausnehmend dumme Kinder großzog, hätte sie im Leben nicht mit so viel Cleverness bei so einem kleinen Kind gerechnet. Der Bengel war auf gar keinen Fall älter als Sonja. Vielleicht sieben, vielleicht acht, älter nicht. Und er war absolut nicht auf den Kopf gefallen.
Tja, doch dann machte der vorwitzige kleine Racker leider einen kleinen aber folgenschweren Fehler. Während er rannte, schaute er nämlich nicht nur nach vorne, sondern auch nach hinten. Er prüfte damit, ob sie ihm folgte.
Es kam, was kommen musste: die Sandkiste war zu Ende. Der Übergang von Sand zu Grünfläche war steil abgestochen. Der kleine Hans-guck-in-die-Luft stolperte und plumpste auf
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