Per Anhalter (German Edition)

ich.“,
    „Das ist jetzt vielleicht ´nen guten Monat her.“,
    „Und seitdem ist wahrscheinlich Dauerfeuer zu Hause angesagt, oder? Wenn das mein Sohn wäre, wär das jedenfalls so.“,
    „Na ja, glücklich war ich selbstverständlich nicht darüber, zumal er sich auch nicht besonders gut um alles Weitere gekümmert hat. Ich glaub, er hat sich noch nirgendwo weiter beworben. Oder besser gesagt, ich weiß es. Er liegt nur noch faul rum und macht gar nichts. Alles, was er noch im Kopf hat ist dieses Mädchen aus dem Internet und das war`s. Und natürlich hatten wir da dann und wann Streit. Und trotzdem ist er nicht der Typ, der einfach abhaut und nicht mal genug Gewissen hat, sich zu melden. So gut kenne ich ihn einfach, das dürfen Sie mir wirklich glauben.“
    Iwersen nickte. Sein Blick ruhte auf dem, was er in den PC eingetippt hatte.
    Dann schaute er sie wieder an. Zum ersten Mal erkannte sie so etwas wie Menschlichkeit und Interesse in seinem Blick.
    „Machen Sie sich nicht verrückt. Wir tun, was in unserer Macht steht.“
    Sie presste die Lippen aufeinander und nickte. Es hatte so und so keinen Wert, sich länger mit dem Typen zu unterhalten. Er war hart wie Beton und dass was er sagte, war ohnehin immer dasselbe. Also tat sie wie geheißen und fuhr nach Hause. Obwohl sie immer noch nicht das Gefühl hatte, dass sie besonders ernst genommen worden war, fühlte sie sich ein bisschen erleichtert.
     
    ***
     
    Es würde keinen Kaufbeleg mehr für Davids Fahrrad geben.
    Das hätte sie überrascht. Sie suchte in allen vorhandenen Ordnern mit Belegen, doch sie fand, wie erwartet, keine Quittung vom Fahrradgeschäft.
    Dafür fand sie zahlreiche andere Sachen von David. Seinen Impfpass beispielsweise, eine Röntgenaufnahme aus dem Jahre 1998, als er sich das Schlüsselbein gebrochen hatte, alte Zeugnisse, noch ältere Passfotos und seine Geburtsurkunde.
    Besonders die Passbilder taten ihr weh. Auf denen, die im Ordner waren (warum auch immer, das war eben ihre Ordnung), war David vielleicht 7 Jahre alt. Er hatte noch diese süße Zahnlücke und ganz kurz geschnittene Haare, wodurch er immer leichte Segelohren hatte. Sie schmunzelte obwohl ihr in Wahrheit zum Heulen zumute war. David war so ein süßes Kind und im Grunde seines Herzens ein so guter, warmherziger Mensch. Wie viel Geborgenheit, wie viel Zuversicht und wie viel Wärme war diesem Jungen, durch ihre Art zu leben, wohl abhanden gekommen? Was hatte er in seiner Kindheit an Streit und an Sorgen mitgekriegt, während alle seine Klassenkameraden in einer heilen Welt aufwuchsen? Wie schnell und vor allen Dingen wie häufig waren ihre Kinder ihr wie etwas Selbstverständliches vorgekommen… Jetzt war eines ihrer Kinder verschwunden und sie erlebte mit höllischer Brutalität, wie unfassbar groß ihre Liebe zu ihren Kindern in Wirklichkeit war. Wie sehr er ihr fehlte, obwohl in letzter Zeit längst nicht mehr alles Eitelsonnenschein war.
    Aber das liegt vielleicht auch alles an mir , überlegte sie. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich ihnen ein bisschen mehr Solidität vorgelebt hätte und sie meine Ängste und Sorgen nicht so hätte spüren lassen, wie ich es ganz sicher getan habe. In den Analen ihrer Fotokisten und Alben entdeckte sie auch Bilder von Davids Vater. Er war, genau wie David, ein gut aussehender junger Mann gewesen. Leider wohnte ein riesengroßes, egoistisches Arschloch in ihm – ja, genau wie David. Wie der Vater, so der Sohn… Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, richtig? Hast du dich mal gefragt, wie egoistisch du in all der Zeit warst? Hast du nicht die ganzen Männer angeschleppt? Hast du nicht die gemalten Sachen aus Schule und Kindergarten ignoriert, wenn es dir schlecht ging, wo dein Vater dir beinahe eine für runtergehauen hätte, als er es mitbekam? Sag mal, wunderst du dich wirklich, dass dein Sohn abhaut, wenn er nie eine Konstante in seinem Leben gehabt hat? Wenn er vielleicht sogar immer das unterschwellige Gefühl hatte, dass er dir sowieso egal ist? Er ist mir nicht egal! Aber vielleicht denkt er das. Du kannst nicht die Schuld auf seinen Vater abwälzen. Guck ihn dir an, auf dem Foto. Du hast dieses Kind großgezogen, es erzogen – nicht er. Er hat bei dir gelernt, verstehst du? Auch Egoismus ist Lernsache… Genau wie Gleichgültigkeit… Oder denkst du, man ist es von Natur aus? Du hast aus einem unbeschriebenem Blatt den Jungen geformt, der heute von Zuhause fortläuft und… Sie fing an zu weinen.