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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Hunger.
     
    Von außen war nichts zu erkennen. Der radikale Prozess von Zerstörung und Schöpfung war ein metaphysisches Drama ohne Publikum, verborgen hinter einem Vorhang aus mürber Seide, einem undurchsichtigen Schleier, der die Verwandlung mit primitiver, instinktueller Schamhaftigkeit verhüllte.
    Dem langsamen, chaotischen Zerfall folgte ein Moment der Ambiguität, dann, ausgelöst von unvorstellbaren Umwälzungen von Materie, formte es sich neu. Schneller und schneller.
    Isaac verbrachte viele Stunden mit der Beobachtung der Puppe, doch er konnte sich das autopoietische Ringen im Innern nur in seiner Fantasie ausmalen. Was er sah, war ein solider Gegenstand, eine exotische Frucht, die an einem unsichtbaren Faden in der modrigen Dunkelheit eines provisorischen Vogelkäfigs hing. Ihm war nicht ganz wohl bei dem Gedanken an Monstermotten oder Riesenschmetterlinge, die daraus zum Vorschein kommen könnten. Der Kokon veränderte sich nicht. Wenn man ihn behutsam anstieß, pendelte er ein paar Mal gewichtig hin und her, sonst passierte nichts.
    Isaac beschäftigte sich mit dem Kokon, wenn er nicht an der Maschine arbeitete. Die Konstruktion derselben nahm den größten Teil seiner Zeit in Anspruch.
    Eine Montage aus Kupfer und Glas nahm auf Tisch und Fußboden Gestalt an. Isaac lötete und hämmerte, fügte hier Dampfkolben an und dort thaumaturgische Armaturen. Seine Abende verbrachte er in Kneipen beim Fachsimpeln mit Gedrecsechet, dem palgolaktischen Kustos, oder David oder Lublamai oder ehemaligen Kollega von der Universität. Stets in der Angst, zu viel preiszugeben, diskutierte er gleichwohl leidenschaftlich und beredt über Mathematik und Energie und Krisis und Maschinenbau.
    Er setzte keinen Fuß aus Brock Marsh hinaus. Seine Freunde in Salacus Fields hatte er vorgewarnt, dass er in nächster Zeit nicht erreichbar sein würde, aber diese Beziehungen waren ohnehin flüchtig, locker, luftig, oberflächlich. Die einzige Person, die er vermisste, war Lin. Ihre Arbeit nahm sie mindestens ebenso sehr in Anspruch wie ihn die seine, und je mehr sein Projekt in Schwung kam, desto schwieriger wurde es, ein paar Minuten Zweisamkeit abzuknapsen.
    Stattdessen saß er im Bett und schrieb ihr Briefe. Er erkundigte sich nach den Fortschritten ihrer Skulptur, und er sagte ihr, wie sehr sie ihm fehlte. Jeden zweiten Morgen oder so klebte er eine Marke auf und warf die Briefe in den Kasten am Ende seiner Straße.
    Sie schrieb zurück. Isaac sparte sich ihre Briefe als Nachtisch auf. Er verbot sich, darin zu lesen, bis sein Tagewerk vollbracht war. Dann setzte er sich ans Fenster, trank Tee oder Schokolade, und im Licht der Lampe, die seinen Schatten über den Canker warf und die dunkelnde Stadt, las er, was sie geschrieben hatte. Er wunderte sich über die Wärme, die er in diesen Momenten empfand. Zum Teil war es wohlige Gefühlsduselei, aber auch Zuneigung, echte Verbundenheit, ein Mangel, den er fühlte, wenn Lin nicht bei ihm war.
    Innerhalb einer Woche hatte er einen Prototyp der Krisismaschine gebaut, ein bollerndes, zischendes Gefüge aus Rohren und Draht, das nichts tat, als geballten Krach zu produzieren, asthmatisches Geröchel und Hustengebell. Er nahm sie auseinander und fing von vorne an. Etwas mehr als drei Wochen später wucherte ein neues unordentliches Konglomerat mechanischer Teile vor dem Fenster, aus dem einst die Objekte seiner ersten Experimente in die Freiheit geflogen waren, Gruppierungen diverser Motoren und Dynamos und Konverter, zusammengehalten von abenteuerlicher Schrauberei.
    Eigentlich hatte er auf Yagharek warten wollen, doch er konnte den Garuda nicht einfach herbestellen, der es vorzog, als Vagant die Stadt zu durchstreifen – ein eigenwilliger, absonderlicher Versuch, seine Würde zu bewahren, vermutete Isaac. So war er niemandem Rechenschaft schuldig. Es entsprach kaum seinem Charakter, am Ende einer Pilgerreise quer durch den ganzen Kontinent, seine Verantwortung und Selbstbestimmung einfach aufzugeben. Yagharek blieb ein Fremder in New Crobuzon, wurzellos, ein Außenseiter. Er wollte von niemandem abhängig, niemandem zu Dank verpflichtet sein.
    Isaac malte sich aus, wie der Garuda sich vom Wind des Zufalls durch die Straßen treiben ließ, in leer stehenden Gebäuden auf dem blanken Boden schlief oder zusammengerollt auf Dächern, Wärme suchend an Schornsteine geschmiegt. Möglich, dass er in der nächsten Stunde auftauchte, oder erst in ein, zwei Wochen. Nach knapp einem halben Tag

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