Perdido Street Station 01 - Die Falter
bemerkte und vorbeikam. Dann arbeitete er weiter.
Gegen fünf Uhr stand die Sonne zwar noch hoch, aber sie näherte sich unübersehbar dem Horizont. Das Licht wurde abendlich weich und golden.
Im Innern des Kokons spürte die werdende Lebensform die nahende Dämmerung. Sie erschauerte und regte ihren nahezu vollendeten Körper. In Humores und Fleisch setzte eine Reihe abschließender chymischer Reaktionen ein.
Um halb sieben veranlasste ein dumpfer Schlag von außen gegen das Fenster Lublamai, von der Arbeit aufzublicken. Er schaute hinaus und sah Teafortwo, der sich mit dem Greiffuß den Kopf rieb. Der Wyrmen entdeckte Lublamai und stieß ein freudiges Keckern aus.
»Meister Lublub! Hab meine Runde gemacht und den roten Lappen gesehen.«
»’n Abend, Teafortwo«, sagte Lublamai. »Komm rein.« Er trat vom Fenster weg. Teafortwo kam ins Zimmer geflattert und ließ sich zu Boden plumpsen. Die schrägen Strahlen der Abendsonne tauchten seine rostfarbene Haut in ein prachtvolles, sattes Rot.
Er grinste mit seinem verschmitzten Schratgesicht zu Lublamai hinauf. »Was liegt an, Käp’m?« Ehe Lublamai antworten konnte, erspähte Teafortwo Guteseele, die ihn kritisch beäugte. Er spreizte die Flügel und lechzte sie mit heraushängender Zunge an. Sie watschelte voll Abscheu davon.
Teafortwo grölte vergnügt und rülpste.
Lublamai lächelte nachsichtig. Damit der Wyrmen nicht gleich wieder etwas anderes entdeckte, das ihn ablenkte, zog der Wissenschaftler ihn zum Schreibtisch, wo die Einkaufsliste lag, und gab ihm einen Riegel Schokolade, um sich seiner Aufmerksamkeit zu versichern.
Während Teafortwo und Lublamai aushandelten, wie viele Teile der Wyrmen tragen konnte, bereiteten sich ein Stockwerk über ihnen außerordentliche Ereignisse vor.
In den rasch tiefer werdenden Schatten des Käfigs oben in Isaacs Reich begann der Kokon hin und her zu pendeln, aber nicht von einem Luftzug angestoßen; Bewegungen im Innern des kompakten organischen Bündels versetzten es in oszillierende, hypnotische Schwingungen. Es kreiselte um die eigene Achse, pendelte aus, buckelte leicht. Es folgte ein wisperndes, reißendes Geräusch, viel zu leise, als dass Lublamai oder Teafortwo es hätten hören können.
Eine feucht glänzende, schwarze Hakenkralle stach durch die Fasern des Kokons, wanderte langsam nach oben, zerschlitzte das steife, pergamentene Gespinst so mühelos wie der Dolch eines Meuchelmörders. Ein Schwall fremdartiger Sinne quoll aus dem Schlitz wie unsichtbare Eingeweide. Schwaden wirrer Emotionen trieben durch den Raum, bewirkten, dass Guteseele knurrte und Lublamai und Teafortwo befremdet aufblickten.
Vielgliedrige Hände tauchten aus der Schwärze, fassten die Ränder der Öffnung, drückten sie auseinander. Mit einem weichen, verstohlenen Plumps glitt ein zuckender Körper aus dem Kokon, feucht und schlüpfrig wie ein Neugeborenes.
Eine Minute kauerte das Imago in dem Kasten, schwach und benommen, in derselben embryonalen Haltung, die es in dem Kokon innegehabt hatte. Nach und nach löste es die Glieder, genoss die plötzliche Bewegungsfreiheit. Mit einem Ruck riss es den Maschendraht von der Tür und kroch in die noch größere Freiheit des Lagerhauses.
Es entdeckte seine Gestalt.
Es lernte, dass es Bedürfnisse hatte.
Bei dem singenden Schnarren von zerspringendem Draht zuckten Lublamai und Teafortwo zusammen. Das Geräusch schien von oben zu kommen und durch den ganzen Raum zu vibrieren. Sie schauten sich an, dann wieder nach oben.
»Was’n das, Käp’m …?«, fragte Teafortwo.
Lublamai trat vom Schreibtisch zurück. Sein Blick wanderte zu Isaacs Empore, dann durch die ganze Halle. Nichts. Stirnrunzelnd schaute er zur Tür. War das Geräusch von draußen gekommen?
In dem Spiegel neben der Tür zeigte sich eine Bewegung.
Eine dunkle Gestalt erhob sich am Kopf der Treppe.
Lublamai stieß einen Laut hervor, eine bebende, ungläubige Frage, doch sie erstarb ihm auf den Lippen. Er starrte mit offenem Mund auf das Bild im Spiegel.
Das Dingwuchs. Der Eindruck war der einer sich öffnenden Blüte. Ein Spreizen der Glieder nach langer Enge, wie ein Mensch, der sich aus gebeugter Haltung erhebt und die Arme reckt, doch vervielfacht, ins Ungeheuerliche gesteigert. Als ob die unbestimmten Gliedmaßen der Kreatur, mit Scharnieren versehen, tausendfältig ineinander geklappt wären, so dass sie sich wie eine Scherenschnittfigur entfalteten; ein Rumpf mit Auswüchsen – Arme oder Beine oder
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