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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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der Aufmerksamkeit zu stehen. In ihrer Kolumne pflegte sie einen messerscharfen, gnadenlosen Stil. Wäre es nicht zufällig so gewesen, dass ihre Arbeiten Derkhan gefielen, dann, so Lins Überzeugung, hätten sie niemals Freundinnen sein können. Ihre Kritiken im Leitstern waren unbarmherzig bis an die Grenze zur Brutalität.
    Lin konnte Derkhan gegenüber zugeben, dass sie sich nach Isaac sehnte. Derkhan wusste von ihrer Beziehung. Vor ungefähr einem Jahr, als Lin und sie durch Salacus Fields bummelten, hatte Derkhan Drinks spendiert, und beim Bezahlen war ihr das Portemonnaie aus der Hand gefallen. Sie hatte sich rasch danach gebückt, aber Lin kam ihr zuvor, hob es auf und stutzte nur ganz kurz beim Anblick der alten, abgegriffenen Heliotypie einer strahlend schönen und kämpferischen jungen Frau im Herrenanzug, die aus dem Seitenfach gerutscht war, das XXX am unteren Rand, den Lippenstiftkuss. Sie hatte Derkhan das Bild gegeben, die es in ihr Portemonnaie zurücksteckte, ohne Hast und ohne Lin in die Augen zu sehen.
    »Lange her«, hatte sie nur gesagt und sich in ihr Bier vertieft.
    Lin hatte das Gefühl gehabt, dass sie Derkhan ein Geheimnis schuldete. Fast war sie erleichtert gewesen, als sie sich einige Monate später, deprimiert nach einem dummen Streit mit Isaac, wieder mit Derkhan an einem Tisch sitzend fand, eine gute Gelegenheit, Derkhan die Wahrheit anzuvertrauen, die sie längst geahnt haben musste. Derkhan hatte genickt und nichts als Verständnis für Lins Situation an den Tag gelegt.
    Seither waren sie Freundinnen.
    Isaac mochte Derkhan für ihre politisch kritische Haltung.
    Eben, als Lin an Isaac dachte, hörte sie seine Stimme.
    »Tausendmal um Vergebung, alle miteinander, dass ich so spät komme …«
    Sie schaute sich um und sah, wie er seine Leibesfülle zwischen den Tischen hindurchmanövrierte. Ihre Fühler signalisierten ihm ein Lächeln.
    Ein Chor freudiger Begrüßungen schallte Isaac entgegen. Er schaute Lin an und zwinkerte verstohlen. Während er der Gesellschaft an der Tafel zuwinkte, streichelte er ihren Rücken und sie spürte durch den Stoff ihrer Bluse, wie seine Finger Ich liebe dich buchstabierten.
    Isaac zog einen Stuhl heran und zwängte sich damit zwischen Lin und Cornfed.
    »Ich war eben bei meiner Bank, um ein paar hübsche, funkelnde Nuggets einzulagern. Ein lukrativer Auftrag«, rief er, »macht den Wissenschaftler glücklich und trübt sein Urteilsvermögen. Deshalb trinkt, Freunde, die nächste Runde geht auf mich!« Allgemeiner Jubel antwortete ihm, gefolgt von einem einstimmigen Ruf nach dem Kellner.
    »Wie läuft die Ausstellung, Cornfed?«, erkundigte sich Isaac.
    »Großartig, ganz großartig!«, rief Cornfed und setzte pathetisch hinzu: »Lin ist am Fischtag gekommen, um sie sich anzusehen.«
    »Stimmt.« Isaac hob verdutzt die Augenbrauen. »Hat es dir gefallen, Lin?«
    Sie zeigte mit den Fingern: Ja.
    Cornfed ließ seinen Blick wieder in Alexandrines schwellendes Dekollete tauchen, Isaac wandte sich an Lin.
    »Du wirst nicht glauben, was mir passiert ist …«, begann er.
    Lin legte unter dem Tisch ihre Hand auf sein Knie. Er erwiderte die Geste.
    Mit gedämpfter Stimme berichtete er dann Lin und Derkhan in gekürzter Form von Yaghareks Besuch und Anliegen. Er ließ beide Stillschweigen geloben und schaute sich während des Erzählens immer wieder nach ungebetenen Lauschern um. Das bestellte Hähnchen kam und er verspeiste es geräuschvoll, während er seine geschäftlichen Besprechungen in Der Mondfrau Zwei Töchter schilderte und die bunte Vielfalt von Versuchstieren, die demnächst in seinem Laboratorium eintreffen würde.
    Mit dem Hähnchen und der Geschichte zu Ende, lehnte er sich zurück und grinste, bis der Schatten eines plötzlich erwachten schlechten Gewissens über sein Gesicht huschte. »Und wie kommst du mit deiner Arbeit voran?«, fragte er Lin verlegen.
    Sie winkte ab. Ich kann dir nichts erzählen, mein Schatz, dachte sie. Sprechen wir über deinen neuen Auftrag.
    Seine Miene spiegelte Reue über seinen Egoismus, doch er konnte einfach nicht anders; die Begeisterung für ein neues Projekt wirkte bei ihm wie Scheuklappen. Lin betrachtete ihn mit einer ihr schon vertrauten, melancholischen Zuneigung. Melancholisch wegen seiner Selbstgenügsamkeit in dieser ersten Phase leidenschaftlichen Engagements, Zuneigung wegen seiner Begabung zur vollkommenen Hingabe an eine Sache.
    »Hier, seht mal.« Isaac zog ein Blatt Papier aus der Tasche und faltete

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