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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Freunden. Neben ihr saßen an einer Seite Derkhan Blueday, die Kunstkritikerin des Leitsterns, auf der anderen Cornfed, in lebhaftem und lautstarkem Dialog mit Thighs Growing begriffen, dem Kaktuscellisten. Da waren Alexandrine, Bellagin Sound, Tarrick Septimus, Importinate Spint, Maler und Dichter, Musiker, Bildhauer und Scharen Fußvolk, das sie nur vom Sehen kannte.
    Dies war ihr Milieu. Ihre Welt. Und doch hatte sie sich nie so einsam gefühlt wie heute.
    Das Wissen, dass sie den Auftrag an Land gezogen hatte, das große Los, den Haupttreffer, die künstlerische Herausforderung, von der alle träumten, das Lebenswerk, trennte sie von ihren Freunden. Und ihr furchteinflößender Klient machte die Isolation perfekt. Lin fühlte sich, als wäre sie plötzlich, unvermittelt aus der maliziösen, verspielten, lebhaften, prätentiösen, selbstbezogenen Enklave von Salacus Fields in eine gänzlich andere Welt gestoßen worden.
    Sie hatte mit niemandem gesprochen, seit sie aufgewühlt von der außergewöhnlichen Unterredung in Bonetown zurückgekommen war. Sie sehnte sich nach Isaac, wusste aber, dass er ihre anderweitige Beschäftigung nur nutzen würde, um sich seinerseits in die Arbeit zu stürzen; und es bestand ein unausgesprochenes Einverständnis darüber, dass sie ihn in Brock Marsh nicht besuchte. In Salacus Fields war ihre Beziehung ein offenes Geheimnis, Brock Marsh hingegen war die Höhle des Löwen.
    Also konnte sie einen ganzen Tag lang darüber nachdenken, worauf sie sich eingelassen hatte.
    Zaghaft hatte sie die monströse Erscheinung von Vielgestalt vor ihrem inneren Auge erstehen lassen.
    Gottschiet!, hatte sie gedacht. Aus welchem Ei ist er nur gekrochen?
    Sie hatte kein klares Bild von ihrem Auftraggeber, nur eine Vorstellung chaotischer physischer Disharmonie. Bruchstücke visueller Erinnerungen drangen auf sie ein: Eine Hand mit fünf Krebsscheren an Stelle der Finger. Ein gedrehtes Horn, aus einem Nest von Augen ragend. Ein echsenschuppiger Grat inmitten von Ziegenfell. Unmöglich zu sagen, aus welcher Spezies Vielgestalt einmal hervorgegangen war. Nie hatte sie von einem derart weitreichenden Remaking gehört, derart monströs anamorphotisch. Jemand mit den finanziellen Mitteln, die ihm zweifellos zur Verfügung standen, musste sich doch die besten Sarkoskulptoren leisten können, damit sie ihm eine menschenähnlichere Form verliehen – oder was immer ihm beliebte. Daraus folgte, dass es seine derzeitige Form war, die ihm beliebte.
    Entweder das, oder er war ein Opfer des Torques.
    Lin fragte sich, ob die Besessenheit von der Übergangszone seine Form widerspiegelte, oder ob die Besessenheit zuerst da gewesen war.
    Lins Schrank war voll gestopft mit ersten rohen Skizzen von Vielgestalts Physiognomie – hastig versteckt für den Fall, dass Isaac über Nacht bleiben wollte – und stichwortartigen Notizen der Details, die ihr von seiner albtraumhaften Anatomie in Erinnerung geblieben waren.
    Mit den Tagen verebbte das Grauen, zurück blieben vager Ekel und eine Fülle von Ideen.
    Dies konnte ihr Lebenswerk sein.
    Die erste Sitzung mit Vielgestalt war für morgen, Staubtag angesetzt, nachmittags. Danach pro Woche zwei weitere Sitzungen, wenigstens den ganzen nächsten Monat hindurch, möglicherweise länger, abhängig davon, wie die Arbeit voranging.
    Lin konnte es kaum erwarten anzufangen.
     
    »Lin, du kleiner Trauerkloß!« Cornfed warf eine Karotte nach ihr. »Warum so still heute Abend?«
    Lin nahm Block und Stift zur Hand. Cornfed, Liebling, du langweilst mich.
    Allgemeines Gelächter. Cornfed nahm seine exaltierte Turtelei mit Alexandra wieder auf. Derkhan neigte den grauen Kopf zu Lin hinüber und meinte leise: »Ernsthaft, Lin, du hast bis jetzt kaum ein Wort gesprochen. Stimmt irgendetwas nicht?«
    Lin, gerührt, schüttelte leicht den Kopfkörper.
    Arbeite an wichtigem Projekt. Nimmt einen großen Teil meiner Gedanken in Anspruch, zeigte sie. Es war eine Erleichterung, sich unterhalten zu können, ohne jedes Wort aufschreiben zu müssen: Derkhan beherrschte die Zeichensprache.
    Isaac fehlt mir, fügte sie halb ernst, halb ironisch hinzu.
    Derkhan nickte verständnisvoll. Sie ist, dachte Lin, eine sehr schöne Frau.
    Derkhan war blass, lang und dünn – nur ein kleines Bäuchlein hatte sie sich in ihren mittleren Jahren zugelegt. Sie ergötzte sich an dem ausgelassenen Treiben der Salacus-Clique, doch persönlich war sie eine introvertierte, sanfte Frau, die sich scheute, im Mittelpunkt

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