Perfekte Manner gibt es nicht
Er drückte den Knopf für das Stockwerk, in dem ihre Zimmer lagen, einander direkt gegenüber. »Dann wäre ich vielleicht wach geblieben, während Tim Lord endlos lange über diesen Hamlet -Film schwatzte. Damit hat Jack einen ganz großen Coup gelandet, was?«
»Ja, er bekam ausgezeichnete Kritiken … Aber … o Gott, Frank, das bestärkt mich nicht in meiner Hoffnung, dass man Jack und Lou jemals finden wird! Wenn die Leute, die nach ihnen suchen, so sind wie die Lords und Miss Dupre …«
»Nur keine Bange.« Der Lift hielt, und sie betraten den Teppichboden eines langen Flurs. »Natürlich sind die Personen, die unsere Kinder suchen, keine Hollywood-Typen. Die verstehen was von ihrem Job. Besonders dieser Sheriff. Der würde sogar einen Eisbären in einem Blizzard aufspüren. Also machen Sie sich keine Sorgen, Eleanor, alles wird gut.«
Wie gern würde sie ihm glauben … Aber konnten sich zwei Menschen einfach von der Absturzstelle eines Hubschraubers entfernen und im Wald verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen? Das ergab keinen Sinn. Sicher, das Wetter behinderte die Suche und all diese grauenhaften Schneemassen …
Nur gut, dass sie die Skihütte in Aspen verkauft hatte. Nie wieder wollte sie Schnee sehen. Aber wie lange
würden die beiden durchhalten in der arktischen Kälte?
Sicher nicht lange. Niemand hatte Eleanor das gesagt. Doch sie hatte gesehen, welchen Blick Frank und der Sheriff aus Myra gewechselt hatten, als dieses Thema erwähnt worden war. Offenbar sollte sie vor der Wahrheit geschützt werden.
Und es stand eindeutig fest. Ganz egal wie viele Überlebensfilme man gesehen haben mochte – in dieser Eiseskälte konnte man unmöglich achtundvierzig Stunden überleben.
Natürlich war Eleanor an Verluste gewöhnt. Schon vor langer Zeit hatte sie ihre Eltern verloren, und später ihren Ehemann. Diese drei Todesfälle hatte sie tapfer und würdevoll verkraftet. Zumindest hoffte sie das.
Aber wie sollte sie den Verlust ihres einzigen Kindes ertragen? Niemals – wenn Jack nicht mehr lebte, dann würde auch sie sterben.
Frank stellte Alessandro und den Korb auf den Boden. Statt Eleanor um ihre Schlüssel zu bitten, damit er die Tür öffnen und ihr höflich eine gute Nacht wünschen konnte, ergriff er ihren Arm. »Was ist denn das ?« Prüfend schaute er in ihr Gesicht.
Zweifellos sah sie ziemlich elend aus, noch erbärmlicher als die schreckliche Melanie Dupre. Doch sie zwang sich zu einem Lächeln. »Nichts … nur irgendwas in meinem Auge …«
»Nun hören Sie mir mal zu, Eleanor«, sagte er mit seiner tiefen, freundlichen Stimme. »Wir haben doch darüber geredet. Unsere Kinder sind stark und intelligent und energisch. Glauben Sie, die lassen sich von ein bisschen Schnee und Kälte unterkriegen?«
Eleanor schnüffelte. Sie konnte nichts dagegen tun. Ihr Taschentuch steckte in ihrer Handtasche. Sie wollte jetzt nicht danach suchen. Sie war müde. Furchtbar müde.
»Wissen Sie, meine Tochter ist die hartnäckigste Person, die ich kenne. Abgesehen von ihrer Mutter. Wenn Sie meinen, die lässt sich von so einem Blizzard einschüchtern, dann täuschen Sie sich ganz gewaltig. Und nach allem, was ich von Ihrem Jack höre – nun, dem dürfte eine kleine Unterkühlung nichts ausmachen. Den beiden geht es gut, Eleanor. Ganz bestimmt. Wahrscheinlich sitzen sie gerade in irgendeiner Höhle und knurren den Bären an, den sie vertrieben haben.«
Als er dieses Fantasiebild heraufbeschwor, musste sie lachen. »Ja, das würde Jack ähnlich sehen.«
»Habe ich recht oder nicht? Jetzt gehen Sie ins Bett und schlafen sich aus. Morgen haben die Suchtrupps sicher rausgefunden, wo die Kids stecken. Und die beiden frühstücken mit uns.«
»Hoffentlich nicht in diesem erbärmlichen Restaurant da unten«, sagte sie und wischte eine Träne aus ihrem Augenwinkel.
»War das nicht ein grauenhaftes Dinner? Nach diesem Lendenfilet musste ich eine halbe Flasche Magenbitter trinken. Wie man ein Steak so verderben kann, begreife ich nicht. Aber in diesem Schuppen verstehen sie sich drauf.«
»Morgen suchen wir uns irgendein nettes Lokal, und da frühstücken wir. Wie klingt das?«
»Wunderbar.« Impulsiv stellte sie sich auf die Zehenspitzen und hauchte einen Kuss auf Frank Calabreses Wange. »Danke«, wisperte sie.
Zu ihrer Verblüffung verdunkelte sich sein Gesicht. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie merkte, dass er keinen Herzanfall erlitt, sondern errötete.
Schon lange hatte sie niemanden mehr
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