Performer, Styler, Egoisten
Slogans wie „Friede, Freude, Eierkuchen“ zog eine fröhlich feiernde Spaßgemeinschaft im Zuge der Love Parade jährlich durch Berlin und wollte nichts anderes als den kurzen Alltagsflip am Wochenende, um dann am Montag wieder angepasst in den Lern- und Arbeitsalltag zurückzukehren. Die Popkultur ist zur Kompensations- und Fluchtkultur geworden. Ab nun ist alles ins kulturindustrielle System integriert. Selbst gesellschaftskritische popkulturelle Beiträge werden von der Musikindustrie aufgegriffen und vermarktet. Es gibt keinen Grund mehr, dass sich das Establishment vor kritischen Statements aus der Popkultur fürchtet. Alles ist nur noch ein Spiel mit Stilen, Symbolen, Äußerlichkeiten. Jugendkultur ereignet sich nur mehr als ästhetisches Schauspiel, längst ist sie keine materielle politische Kraft mehr. Popmusik wird in die Wahlkämpfe von Spitzenpolitikern aller Parteien integriert. „Pop ist nicht mehr Provokation, sondern wird zum Ausdruck westlicher Grundwerte wie Freiheit und Selbstbestimmung.“ (Büsser 2007: 30) Mit einem Mal sind die Politiker die größten Popstars und nicht mehr die InterpretInnen von Rock-, Pop-, House- und HipHop-Musik.
Gänzlich absorbiert wird der letzte Rest an kritischer Energie der Popkultur im Zuge des Aufkommens der „performativen Ökonomie“ in den 1990er Jahren. Jetzt geht es nicht mehr darum, durch Leistung zu glänzen, sondern die gesellschaftlichen Statusmerkmale haben sich von der Leistungserbringung zum Leistungsverkauf verschoben (vgl. Neckel 2008: 45ff.). Prämiert wird nun vor allem der Markterfolg, nicht die Arbeitsleistung. Das Prinzip der „performativen Ökonomie“ liegt den postmodernen Casting-Shows zugrunde, die die wichtigsten medialen Träger der Mainstream-Popkultur geworden sind. In ihnen zählt nicht mehr künstlerische Kreativität, der individuelle, eigenständige und innovative Künstler und sein Werk, sondern die Fähigkeit zur Imitation und Affirmation. Wer der Jury brav gehorcht und erfolgreiche Hitproduktionen am besten zu imitieren versteht, der gewinnt und wird am Ende der Superstar der nächsten drei Monate.
Musikszenen als Lernorte
Wie wir gesehen haben, haben sich Musikindustrie und Musikkultur voneinander getrennt. Während die Musikindustrie in erster Linie den oberflächlichen Mainstream bedient, ereignen sich Musikkulturen in der vielfältigen und bunten Nischenwelt kleiner Labels, Agenturen etc., die vor allem im Internet repräsentiert ist. Doch sowohl die Mainstreamkultur der Musikindustrie als auch die Nischenkultur der alternativen und Indie-Szene liefern Ressourcen für junge Menschen, auf die sie zurückgreifen können, um Identitäten auszubilden und Selbstbilder zu konstruieren, um sich jugendkulturellen Gruppen, Szenen und Milieus zuzuordnen oder sich von diesen abzugrenzen und um durch die Neukombination und Umdeutung von popkulturellen Zeichen und Symbolen Widerstand gegen herrschende Diskurse, Rollenfestlegungen und ästhetische Konzepte zu leisten.
Aber Musikkulturen stellen nicht nur Ressourcen bereit, die der Identitäts- und Persönlichkeitsbildung dienlich sind. Musikszenen sind auch Lernorte, an denen Wissen vermittelt wird, das für die spätere Berufsrolle und Berufspraxis von Jugendlichen durchaus nützlich sein kann. Ronald Hitzler und Michaela Pfadenhauer weisen darauf hin, dass junge Menschen in der Postmoderne immer weniger damit rechnen können, dass ältere, erwachsene Leute brauchbare Lösungen für ihre Probleme bereithalten. Auch die Bildungsprogramme herkömmlicher Agenturen der Sozialisation wie schulische Ausbildungsgänge, Jugendverbände, politische und kirchliche Organisationen und die Familie können den existenziellen Fragen der Jugend immer weniger gerecht werden. „In diesen Programmen finden Jugendliche typischerweise weder mehr ihnen brauchbar erscheinende Vorgaben zur sinnhaften Abstimmung und Bewältigung ihrer lebenspraktischen Probleme, noch finden sie dort zuverlässige Anleitungen zur Passage gegenwärtiger und künftiger Lebensphasen.“ (Hitzler/Pfadenhauer 2007: 54)
Insbesondere in Jugendszenen suchen Jugendlichen nun das, was sie in dem Ensemble der traditionellen Sozialisationsagenturen nicht mehr finden: „Verbündete ihrer Interessen, Kumpanen für ihre Neigungen, Partner ihrer Projekte, Komplementäre ihrer Leidenschaften (…).“ (Ebd.) Damit sind Jugendszenen, vor allem die Musikszenen, nicht nur als Orte für Action, Unterhaltung und Freizeitvergnügen
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