Perlenregen
Rentnergang überragt mich um mindestens zehn Zentimeter. Irgendwie komme ich mir vor wie ein kleines Mädchen, das mit Mami und Papi zum Ohrlochstechen geht. Mit wichtiger Miene betritt Ruth als Erste den Laden, Oma und ich dackeln hinterher. Oh Gott, da ist er schon! Leon sieht schon wieder umwerfend aus, aber … er ist nicht allein. Eine elegant gekleidete Frau, vielleicht fünf bis zehn Jahre älter als er, sortiert etwas in einem Regal mit lauter edlen Armbanduhren für Herren. Sie hat dunkle Haare wie Leon. Hoffentlich ist es nur seine Schwester! Beide sagen gleichzeitig:
„Guten Tag!“ und lächeln uns freundlich an.
Am liebsten würde ich im Erdboden versinken. Mir ist das alles so peinlich, auch wenn Leon und die Fremde ja nichts von unserer Mission wissen können.
Ruth übernimmt das Kommando. Alles andere hätte mich auch gewundert. Ich wage ein kurzes Lächeln in Leons Richtung, das er unverbindlich erwidert. Er hat mich schon wieder vergessen – mein Selbstbewusstsein ist total am Boden. Das alles ist totaler Blödsinn, wir sollten am liebsten wieder gehen.
„Haben Sie auch Bernsteinketten?“ , fragt Ruth.
„Ja, haben wir. Es sind moderne Exemplare, Bernstein ist wieder ganz stark im Kommen, aber in anderen Fassungen, als man es von früher kennt. Nehmen Sie doch bitte Platz, die Damen, dann zeige ich Ihnen unsere Auswahl.“
Wie die Hühner auf der Stange setzen wir uns auf drei weich gepolsterte Stühle. Kann jetzt nicht bitte wieder die Zeit stehen bleiben? Es wäre allerdings wichtig, dass wieder nur Leon und ich übrig bleiben. Ruth und Oma brauch ich jetzt nicht, die doofe Braunhaarige ebenso wenig. Sie hat nur ihr aufgesetztes Lachen auf den Lippen, während Leon eine Schublade voller hässlicher Bernsteinketten auf den Tresen legt. Kann die nicht sprechen? Wenn das Leons Schwester ist, wirft das aber kein gutes Licht auf seine Gene. Vielleicht hab ich mir das alles doch nur eingebildet. Leon kommt mir so fremd vor, die stumme Grinserin ist mir unsympathisch, wie sie da so doof in der Ecke steht und uns beobachtet.
„Ah, die ist schön, guckt mal“, sagt Oma und zeigt auf den einzigen Anhänger, den man nicht als komplett misslungen bezeichnen könnte. Oma hat eben Geschmack.
„Mir zu klein. Ich habe ja viel zu bieten, haha“, sagt Ruth und streckt ihren Busen vor. Oh Gott, ich möchte tot sein!
Höflich lacht Leon mit und sagt:
„Sie haben recht, wenn man nicht so zart wie Ihre Enkelin ist, wirken große Schmuckstücke besser.“
Er zwinkert mir ein klitzekleines bisschen zu, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Ich möchte doch nicht sterben. Lieber soll die Grinserin auf der Stelle tot umfallen, die macht mich völlig nervös.
„Ich bin nicht die Großmutter, sondern meine Freundin hier“, erklärt Ruth unsere Gemeinschaft. „Frau Steinchen ist Nelas Oma, ich bin nur die Freundin. Ohne die beiden kaufe ich grundsätzlich nichts, was über 100 Euro kostet. Sie müssen mich beraten, besonders Nela hat einen ausgezeichneten Geschmack. Nicht, Christa? Sag doch auch mal was, wie findest du denn dieses Stück hier?“
„Ja, hübsch. Aber die Fassung ist silbern, das passt gar nicht zu deinen Ringen. Oder hast du auch silberne Ringe?“, fragt Oma.
„Das ist nicht Silber, sondern Weißgold“, rügt Profi Ruth. „Natürlich habe ich weißgoldene Ringe.“
Bewundernd nickt Leon , als wolle er sagen: Frau Klaassen hat echt Ahnung. Die Grinsefrau stellt sich hinter ihn, fasst ihm kurz an die Schulter und sagt:
„Ich bin hinten, ne?“
Er berührt ihre Hand, antwortet mit „Ja“, dann verschwindet sie dorthin, wo er mit mir mal einen Katalog suchen wollte. Das Leben ist so ungerecht. Die Grinsefrau sah leider wunderschön aus in ihrem hautengen Overall. Ich hasse es, wenn ich vor Eifersucht koche, aber ich kann es leider nicht ändern.
„Dass Bernstein nie ganz günstig ist, wissen Sie sicherlich? Aber ich finde, dass es wirklich Schmuckstücke fürs Leben sind. Möchten Sie einmal Ihren Favoriten anlegen?“
„Dann kann ich es ja nicht sehen … Nee, nee, bitte binden Sie mal unserer Nela die Kette um, dann kann ich mir ein besseres Bild davon machen.“
Entrüstet werfe ich ihr einen Ich-bring-dich-um-Blick zu. Plumper geht es ja wohl nicht!
„Ruth, es gibt hier auch Spiegel“, presse ich heraus und spüre, wie ich mal wieder knallrot anlaufe. Spätestens jetzt müsste Leon mich erkennen. Ich bin die Kleine mit dem Tomatenkopf.
„Schnickschnack.
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