Perlentod
Senta stellte sich vor, sie müsste sich einen Kleiderschrank mit ihrem Vater teilen. Was für ein Albtraum!
Um sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen, zog Senta ihre Unterlagen heraus und begann, den Stoff durchzugehen, den Rebecca verpasst hatte. Die Zeit verging schnell. Bevor Senta aufbrach, schlug sie vor, am Ende der Woche noch einmal vorbeizukommen. Rebecca nahm das Angebot freudestrahlend an.
»Denk dran, was ich dir wegen der Clique gesagt habe«, riet sie ihr noch einmal zum Abschied. »Die sind gefährlich.« Nicht zum ersten Mal fragte sich Senta, was Rebecca wohl über Miriam und ihre Hofdamen wusste.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Bettina Horicek, eine Schülerin aus der Parallelklasse, war verschwunden. Ihre Eltern vermissten sie seit den frühen Morgenstunden. Als die Mutter sie wecken wollte, hatte sie nur ein kaltes, leeres Bett vorgefunden.
»Ein zerwühltes Bett wohl eher«, behauptete Lars, der Klassenclown, aber keiner lachte.
Nur Miriam meinte mit unbewegter Miene, dass Bettina sicher nicht entführt worden sei. »In Horrorschrecks Klodeckelgesicht will doch noch nicht einmal ein Triebtäter reinschauen müssen«, ließ sie hämisch verlauten und die Hofdamen kicherten in sich hinein.
»Bevor ich einen deiner geschmacklosen Kommentare in den Mund nähme, würde ich lieber drei Liter Frittenöl trinken«, konterte Senta für alle im Raum hörbar. Die gnadenlose Kaltschnäuzigkeit von Miriam und ihren Anhängerinnen ließ sie langsam explodieren.
Auf einen Schlag wurde es still im Raum und Miriams voller Erdbeermund verzog sich zu einem roten Strich. Senta überlegte gerade, ob es besser wäre, in Deckung zu gehen, als plötzlich Herzers Stimme die Stille durchschnitt.
»Meine Herrschaften, auf die Plätze.«
In der folgenden Vertretungsstunde machte Mr Herzlos seinem Spitznamen alle Ehre. Anstatt auf die schreckliche Nachricht einzugehen, zog er seinen Unterricht gnadenlos durch.
Noch schlimmer als der Unterricht waren für Senta aber mittlerweile die Pausen. In der zweiten großen Pause kam Clemens mit seinen Kumpels auf sie zu und fuhr ihr, ehe sie zur Seite springen konnte, grob über die Haare. »Na, heute ohne Kapuze unterwegs, Kack-Puzenlady? Hast du dich auch gut gewaschen? Sah ja äußerst sexy aus, dein Auftritt als Grubenarbeiterin. Fehlt nur noch ein Helm mit Lampe.« Kims Handy-Film hatte also schon die Runde gemacht!
Während alle Umstehenden in gellendes Gelächter ausbrachen, bahnte Senta sich wütend einen Weg aus der Gruppe. Dabei wäre sie fast gestürzt, als sie im letzten Moment einem ausgestreckten Bein auswich. Empört schaute sie sich um, konnte aber nicht ausmachen, wer von den Kerlen es gewesen war.
9
Als Senta am nächsten Schultag ins Klassenzimmer kam, traf sie fast der Schlag. Über die ganze Tafel war Rikos Name gekritzelt. Und da stand noch mehr! Senta will Riko van de Bleesen gerne einen blasen, prangte in krakeligen Kreidelettern auf dem grünen Untergrund.
Statt in Tränen auszubrechen, bemühte sich Senta, ruhig zu bleiben. Sie spürte die Blicke sämtlicher Mitschüler brennend in ihrem Rücken, als sie zur Tafel ging, den Schwamm am Waschbecken befeuchtete, um das Geschmiere in großen Kreisen abwischte. Es kostete sie unendliche Kraft, nicht in ein wildhysterisches Gewische überzugehen und ihr Entsetzen und ihre Scham herauszuheulen. Aber darauf warteten die ja nur. Diesen Gefallen werde ich hier niemandem tun, dachte Senta und kniff ihre Lippen fest zusammen. Schon gar nicht Miriam. Es gelang ihr sogar, in beinahe lapidarem Tonfall zu verkünden, dass sie zwar keinen Tafeldienst habe, aber heute schon nach dem Aufstehen große Lust verspürt hätte, eine Tafel zu säubern.
»Gestern habe ich mit deinem Riko ein nettes Gespräch geführt«, rief Miriam mit honigsüßer Stimme. Offenbar genügte ihr die Demütigung noch nicht. »Komisch, dass er erst gar nicht wusste, wer Senta Herzog ist. Ich musste ihm ganz schön auf die Sprünge helfen. Leidet dein Schatzi unter Amnesie oder treiben dich neuerdings Wahnvorstellungen an?« Und zu den Mitschülern im Klassenzimmer gewandt, surrte Miriam: »Senta ist nämlich der Meinung, dass dieser Riko aus München mit ihr geht.« Die Hofdamen und noch ein paar andere lachten. Clemens und seine Kumpels zeigten obszöne Gesten. Und die weniger coolen Mitschüler mussten plötzlich alle irgendwelche Sachen aus ihren Schultaschen kramen. Alle duckten sich. Nur Carsten Krabbe, ein
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