Perlentod
Riese mit Händen wie Baggerschaufeln, sah nicht weg. Er schob seine Kilos aus der engen Bankreihe und stapfte auf Senta zu. Im ersten Augenblick dachte Senta, Carsten würde sie schlagen oder gegen die Tafel schleudern. Ihren Mitschülern traute Senta mittlerweile alles zu! Sie wollte schon schützend ihre Hände vor das Gesicht halten, als Carsten vor ihr stehen blieb, sie linkisch angrinste und mit tiefer Stimme fragte, ob sie einen Bodyguard bräuchte.
»An mich traut sich hier keiner heran.« Senta starrte ihn entgeistert an. Aber Carsten Krabbe nickte seinem Banknachbarn zu und schon raffte der seine Siebensachen zusammen und setzte sich auf Sentas alten Platz. Und als Miriam verächtlich schnaubend rief: »Die Lügenbaronin und das Biest«, lachte keiner mehr darüber. Auch, wenn Zehka, wie Carsten von allen genannt wurde, nicht gerade ein Ausbund an Beliebtheit war. Niemand hätte sich mit ihm anlegen wollen. Nach mindestens zwei Ehrenrunden hatte Zehka in den höheren Klassen viele Verbündete und es hielt sich hartnäckig das Gerücht, er habe im letzten Jahr jemandem beim Armdrücken die Schulter ausgekugelt.
Senta wusste nicht, ob sie sich über ihren neuen Beschützer freuen sollte. Unter den wachsamen Augen Zehkas hatte ihr Spießrutenlauf natürlich ein Ende gefunden. Aber von nun an jede Schulstunde neben dem massigen Fleischberg sitzen zu müssen, der nicht nur drei Viertel der Sitzbank einnahm, sondern mit seinen Körperausdünstungen ganze Affenkäfige in den Schatten stellen konnte, bereitete ihr ernsthafte Kopfschmerzen. Gestank führte bei Senta schon seit Kindheitstagen zu Migräneattacken.
Vorerst blieb Senta nichts anderes übrig, als sich in ihr Schicksal zu fügen, mit möglichst flacher Mundatmung dem Unterricht zu folgen und der Pause gelassen entgegenzusehen.
Die Polizei war bereits den ganzen Vormittag in der Schule unterwegs, um Schüler und Lehrer zu befragen. In der vierten Stunde war Sentas Klasse an der Reihe.
Als Senta aufgerufen wurde, begleitete sie ein Beamter mit Schnurrbart in das Elternsprechzimmer, wo sie eine Frau mittleren Alters und ein ziemlich junger männlicher Kollege begrüßten. Beide waren in zivil.
»Mein Name ist Jutta Wagenstein und das ist mein Kollege Herr Lahm. Und du bist Senta Herzog?«
»Ja«, antwortete Senta. Ein kleines Aufnahmegerät stand auf dem Tisch.
»Wir möchten dir ein paar Fragen stellen. Bist du bereit?«
Senta nickte.
»Wie gut kennst du die vermisste Schülerin Bettina Horicek?«
»Eigentlich kaum. Nur vom Sehen. Sie geht in meine Parallelklasse.«
»Kannst du dir vorstellen, dass es Gründe gibt, die sie dazu bewogen haben wegzulaufen?«
»Na ja«, Senta zögerte. Sollte sie erwähnen, was Miriam über Bettina gesagt hatte?
»Was du uns hier erzählst, wird keiner aus der Schule erfahren. Für uns kann jede noch so unbedeutende Kleinigkeit das entscheidende Puzzlestück sein«, ermunterte sie die Kommissarin. Senta atmete einmal tief durch und berichtete von dem Vorfall in ihrer Klasse. Sie erwähnte Bettinas Spitznamen »Horrorschreck« und scheute sich auch nicht davor zurück, Miriams Namen zu nennen. Die Kommissarin notierte alles und stellte eine letzte Frage, die Senta sehr erstaunte. Denn sie zielte auf die ermordete Lehrerin, Frau Polsterschmidt, ab. Die Kommissarin wollte wissen, ob Senta sie gekannt hatte. Wahrheitsgemäß schüttelte sie den Kopf.
Doch auf dem Weg zurück in die Klasse ließ ein Gedanke sie nicht los: Gab es etwa eine Verbindung zwischen Bettinas Verschwinden und dem alten Mordfall? Vielleicht hätte ich der Polizei auch von Miriams Aufforderung erzählen sollen, am Fundort der Leiche ein Feuer zu legen, überlegte sie, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Sicher war Miriams Idee krass gewesen, aber das konnte doch unmöglich etwas mit dem Verschwinden von Bettina zu tun haben.
Der restliche Schulvormittag verlief verhältnismäßig ruhig. Zehkas Schutz wirkte außerordentlich gut. Nur gegen Herzers Angriff konnte er nichts ausrichten. Ein Stöhnen war durch die Klasse gegangen, als er in der letzten Stunde verkündete, er wolle ihr Grammatik-Grundwissen an der Tafel prüfen. Natürlich hatte er da schon genau gewusst, wen er an die Tafel holen wollte. Viel zu auffällig war seine zur Schau gestellte Auswahltaktik. Mit geschlossenen Augen, den Zeigefinger die Klassenliste hinunterlaufend, hatte er ausgerechnet beim Namen Herzog gestoppt. Erst als Senta aufgestanden war, hatte Herzer sie dann
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