Perlentöchter
Ausrüstung verkaufte.
»Was sollen wir tun?« Sandras Miene war verkniffen, und Helen konnte nicht erkennen, ob aus Sorge oder aus Abneigung oder aus einem Rest Unmut darüber, dass Helen die Lichter angelassen hatte.
»Wir müssen einen Krankenwagen rufen.«
»Ich schätze, dann muss ich wohl nach nebenan gehen. Weiß der Himmel, was aus meinem Abendessen wird.«
Wie viele Familien benutzten sie die öffentlichen Telefonzellen. Aber das ältere Ehepaar, das nebenan wohnte, hatte ein eigenes Telefon, und Sandra machte sich wichtigtuerisch auf den Weg.
Als der Krankenwagen eintraf, wurde Helens Körper von heftigen Krämpfen geschüttelt, die sie von innen wie außen überrollten. So fühlt sich das also an, dachte sie in einem klaren Moment, wie sie sich später erinnerte. All die Jahre, in denen sie anderen Frauen geholfen hatte, ihre Kinder zur Welt zu bringen, und nun war sie selbst an der Reihe!
Nichts schien real nach ihrer Ankunft im Krankenhaus. Die Gänge verschwammen vor ihren Augen. Weiße Wände lachten sie aus. Sie erinnerte sich, dass sie irgendwann nach Bob schrie, oder war es Clives Name, der aus ihrem Mund kam? Ein Glück, dass Bob nicht hier war und es hören konnte. Und sie schrie laut nach ihrer Mutter. Wie sehr sie sich in diesem Moment ihre Mutter herbeiwünschte! Es war, als würde die ganze Trauer aus ihr herausströmen, die sich über so viele Jahre hinweg in ihrem Innern angestaut hatte.
Dann rief plötzlich eine der Hebammen: »Helen! Ich kann bereits den Kopf sehen!« Ein Schwall schoss aus ihr heraus, eine Art Rauschen, und dann legte ihr jemand dieses kleine, nasse, nach Fisch riechende Bündel auf die Brust.
»Hier ist Ihre Tochter, Helen.«
Ein Mädchen? Bob hatte sich einen Sohn gewünscht. Wie würde er reagieren, wenn er hier eintraf? Aber während Helen auf das kleine Bündel mit den trotz der Nässe erkennbar goldblonden Haaren blickte, wurde sie plötzlich von einer derart großen Liebe übermannt, dass sie das Gefühl hatte, ihr Herz würde entzwei brechen.
Sie hatte endlich wieder eine Familie.
35
Helen hätte sich wegen Bobs Reaktion keine Sorgen zu machen brauchen. Als er kam, ungefähr drei Stunden später, hatte sein Gesicht einen Ausdruck, den sie noch nie bei ihm gesehen hatte. »Sie hat ja rote Haare«, sagte er erstaunt, während er sanft die Hand an den Hinterkopf der Kleinen legte, als Helen sie ihm vorsichtig gab.
Sie lächelte erschöpft. »Das dachte ich zuerst auch, aber schau, das hat mit dem Einfall der Sonne durch das Fenster zu tun. Wenn du sie ins Licht hältst, wirst du feststellen, dass sie sehr hell ist, beinahe blond. So wie du.«
»Und wie mein Vater.« Bob erwähnte sehr selten seinen Vater. Es war, als wäre er wütend auf ihn, weil er so plötzlich an einem Schlaganfall gestorben war, nachdem er erst kurz zuvor die Handelsmarine verlassen hatte. Sandra hatte etwas dagegen, dass ihr Mann zur See fuhr und sie allein für Bob verantwortlich war in den langen Monaten, in denen sein Vater fort war. Helen fragte sich allmählich, ob das erklärte, warum Bob manchmal nur an sich und seine eigenen Bedürfnisse dachte und sich ständig über die langen Fahrten beschwerte, die er beruflich machen musste.
Aber als er nun seinen Vater erwähnte, sprach er mit weicher Stimme. Vielleicht war das alles, was Bob brauchte, dachte Helen. Ein Kind, für das er sorgen konnte, ein Kind, dem er ein Vater sein konnte auf eine Art, die er selbst nicht wirklich kennengelernt hatte. Irgendwie kam Sandra Helen nicht besonders mütterlich vor.
Als sie ungefähr zehn Tage später nach Hause durfte, machte sie die erstaunliche Feststellung, dass Sandra beinahe so sehr in Caroline vernarrt war wie Helen selbst. »Ich möchte aber nicht, dass sie mich Oma nennt.« Sandra rümpfte die Nase. »Sonst komme ich mir so alt vor. Ein schlichtes ›Sandra‹ reicht. Und ich hoffe, dass sie uns nicht die ganze Nacht auf Trab hält. Du willst doch jetzt nicht in die Küche, oder? Ich muss nämlich zuerst rein, und es ist nicht genug Platz für uns beide.«
Anfangs schlief die Kleine in der Babytragetasche neben dem Ehebett, aber wenn sie aus Hunger zu quengeln und zu weinen begann, fühlte Bob sich gestört, und Helen lenkte widerwillig ein, sie wie ursprünglich geplant zum Schlafen in den kleinen Raum nach oben zu bringen. Das hatte allerdings zur Folge, dass Helen kein Auge zubekam vor Sorge, ihre Tochter könnte aufwachen und sie bekäme es nicht mit. Eines Nachts
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