Perlentöchter
bei Tante Phoebe und Onkel Victor vorbeizuschauen, aber Bob weigerte sich, dort zu Mittag zu essen, da er nach all den Jahren genug davon hatte, bei den einzelnen Gängen das falsche Besteck zu benutzen und verächtliche Blicke auf sich zu ziehen.
Stattdessen wollten sie ein Picknick machen. Sandra hatte ihnen einen Primus-Kocher geliehen, mit denen sie die selbstgemachten Fleischpasteten aufwärmen konnten. Sie hielten auf einem Rastplatz, und Caroline durfte aussteigen und zu einer Weide laufen, um die samtene Nase eines Pferds zu streicheln, während Bob sie begleitete.
»Du bleibst bei ihr.«
Wenn Bob etwas mehr Zeit mit seiner Tochter verbrachte, würde er vielleicht erkennen, wie sehr Helen dieses Baby brauchte.
»Ich kümmere mich um den Campingkocher.«
Helen schraubte den Deckel von der Spiritusflasche, die sie mitgebracht hatten. Sandra hatte ihnen erklärt, wie sie beim Anzünden vorgehen sollten. Vorsichtig kippte sie etwas von der Flüssigkeit auf den Brenner.
Eine furchtbare Stichflamme schoss empor, und ein brennender Schmerz erfasste ihren Körper. Ein Schrei zerriss die Luft, als würde er jemand anderem gehören. Helen sah undeutlich durch die Flammen, dass ihre Tochter entsetzt zu ihr herüberstarrte und Bob in ihre Richtung rannte. Und danach nichts mehr.
36
»Mein Unfall«, wie Helen es später nannte, hätte sie beinahe das Leben gekostet, und gleichzeitig war er ihre Rettung. Hinterher wurde ihr gesagt, sie habe großes Glück gehabt zu überleben, nachdem sechzig Prozent ihrer Körperoberfläche verbrannt waren. Aber zu jener Zeit konnte sie es nicht als Glück betrachten. Sie wusste nur, sie musste es überstehen.
»Caroline«, sagte sie in ihrer Erinnerung, während verschwommene Gesichter auf sie herabblickten an einem Ort, den sie nicht kannte. Und dann versuchte sie wieder, den Namen ihrer Tochter zu sagen, aber er kam nicht richtig heraus. Zumindest verstand sie keiner.
Hat das Feuer auch Caroline verletzt?, wollte sie fragen, aber der quälende Schmerz, der im oberen Brustbereich brannte, am Hals und an den Armen, war so schlimm, dass sie diesen Satz auch nicht herausbrachte.
Sie musste überleben, sagte sie sich, für Caroline. Sie konnte ihrer Tochter nicht das zumuten, was sie durchgemacht hatte – ein Leben ohne Mutter. Wenn das Baby nicht zu Schaden gekommen war (bitte, lieber Gott, lass es so sein), konnte sie wirklich von Glück sagen. Aber noch war es nicht geboren. Caroline war fünfeinhalb. Zu jung, um mit Bob und Sandra alleingelassen zu werden.
»Schon gut«, sagte eine sanfte Stimme über ihr. Es kam ihr vor, als bewegte sie sich auf einem Rollband aus Gemurmel und hellen Lichtern und antiseptischem Geruch. »Sie haben es fast geschafft, Helen.«
Sie kannte die Stimme nicht, aber Krankenschwestern redeten, wie sie nur allzu gut wusste, ihre Patienten beim Vornamen an, um sie zu beruhigen. War das der Ort, wo sie war? Ein Krankenhaus? Oder war sie vielleicht an einem unbekannten Ort und wartete darauf, ihre Mutter zu sehen?
Als sie wieder zu sich kam – wie lange hatte es gedauert? –, lag sie in einem Bett. Nicht in ihrem eigenen. Bob saß neben ihr, und auch ihre kleine Tochter, die langen hellen Haare offen, statt zu Zöpfen geflochten, und mit einem ängstlichen Gesichtsausdruck.
»Caroline!«
Helen versuchte, den Arm zu bewegen, aber es tat weh, und außerdem wich ihr Kind zurück. Kein Wunder! Die Haut auf ihrem Arm kräuselte sich wie kleine, schwarz verkohlte Ringelschwänze, und es roch, als hätte jemand Speck gebrutzelt. Sie schien sich wieder zu bewegen wie auf Rollen, während Bob und Caroline blasser und blasser wurden hinter ihr.
»Küss mich«, versuchte sie zu sagen, und dieses Mal war sie sich sicher, dass die Worte herausgekommen waren. Aber Caroline schüttelte den Kopf, und der Schmerz bohrte sich tiefer in Helens Brust als die furchtbaren, furchtbaren Verbrennungen.
Eine andere Erinnerung. Maggy, die neben ihr saß. Maggy ohne ihr übliches Zahnlückengrinsen und ohne Zigarette. »Es ist alles gut, Hellie. Du wirst wieder gesund. Mach dir keine Sorgen wegen Caroline. Ich bin hier.«
Oder hatte sie sich das nur eingebildet?
Nun war es Bob. »Ich bringe Caroline nach Hause. Deine Tante möchte, dass wir ein paar Tage bleiben, aber danach werden wir nach Ealing zurückfahren. Ich komme am Wochenende wieder.«
Das Baby, wollte sie fragen. Habe ich noch mein Baby?
Aber wieder wollten die Worte nicht herauskommen, und offenbar wollte
Weitere Kostenlose Bücher