Perlentöchter
war, als würde ein elektrischer Schlag ihren Körper durchzucken. »Woher«, erwiderte sie im Flüsterton, »wissen Sie das?«
»Phoebe hat es mir gesagt. Auch alte Schreckschrauben müssen sich mal aussprechen. Aber darum geht es nicht.« Sie fixierte Caroline mit einem Blick, der diese an ihre Großtante erinnerte. »Finden Sie nicht, dass Sie ihm das schuldig sind? Simon hat es verdient, die Wahrheit zu erfahren.«
43
Caroline verschlug es fast die Sprache. Als sie schließlich antwortete, klang es sehr gepresst, als hätte sie Atemnot. »Ich habe das so oft im Kopf durchgespielt, dass ich mir nicht sicher bin. Was würde es bringen?«
»Es könnte Simon helfen, dass er sich weniger schuldig fühlt, was sein eigenes Verhalten betrifft.« Dianas unaufgeregte, sanfte Stimme wirkte auf sie beruhigend wie das Schwappen der Wellen unter ihnen. »Schuld ist eine schreckliche Bürde, wenn man versucht, seine Ehe zu retten.«
Caroline biss sich auf die Lippe. »Sie hören sich an, als hätten Sie Erfahrung damit.«
»Es ist Ihr Leben, über das wir gerade sprechen, meine Liebe, nicht meins.«
Dianas Griff um ihren Arm wurde stärker, während eine deutsche Familie sich nun laut auf der Bank neben ihnen niederließ, bepackt mit Ferngläsern und Lunchpaketen. In unausgesprochener Übereinstimmung standen die beiden Frauen auf und stellten sich an das Geländer, wo man den Strand unten überblicken konnte. Die Aussicht von hier oben machte Caroline etwas benommen – sie hatte schon immer leichte Höhenangst.
»Ich könnte Ihnen freilich etwas empfehlen.«
»Was denn?«
Es klang beinahe unhöflich in ihrer Verzweiflung.
Diana ging langsam weiter durch den von Mauern umgebenen Garten, der zu der Ruine gehörte, mit seinen gepflegten Rosenbeeten in einer Vielzahl von blassen Pfirsichtönen und zartem Rosé. »Können Sie sich erinnern, dass Sie mir erzählt haben, Ihre Großmutter hätte das, was wir hellseherische Kräfte nennen?«
»Übersinnliche Fähigkeiten, meinen Sie?« Simon hatte eine Kollegin, die darüber eine Kolumne schrieb. Sie nahm das Thema sehr ernst, sagte Simon immer, genau wie Tausende ihrer Leser.
»So kann man es auch ausdrücken, glaube ich.«
Es entstand wieder eine Pause, und Caroline fragte sich, ob Diana das Thema vergessen hatte. Dann, als sie die Hauptstraße erreichten, die zum Haus hinunterführte, fuhr die alte Frau fort: »Ich kenne da jemanden. Eine Heilerin. Für Körper und Seele. Eine Frau, die die Vergangenheit und die Zukunft versteht. Sie ist vor ein paar Jahren hierhergezogen. Haben Sie Lust, sie kennenzulernen?«
Diana steckte voller Überraschungen. Von einer Frau in ihrem Alter hätte man das nicht erwartet – andererseits, warum eigentlich nicht? Warum sollte jemand, der mindestens Mitte siebzig sein musste, nicht an übersinnliche Fähigkeiten glauben? Außerdem, Diana mochte vielleicht ein wenig schrullig sein, wie Grace gestern Abend am Telefon angedeutet hatte, aber sie war die letzte Verbindung zu ihrer Großmutter – zu der Frau, die Grace und Caroline nie kennengelernt hatten und die ihre Mutter zu früh verlassen hatte.
»Ich wünschte, ich wäre bei der Beerdigung mit Diana ins Gespräch gekommen«, sagte Grace bedauernd, als sie sich am Tag zuvor endlich meldete. »Sie scheint mir ziemlich ähnlich zu sein. Was hat sie dir über unsere Großmutter erzählt?«
Caroline, die gehofft hatte, dass der Anruf von Simon kam und nicht von ihrer Schwester, fiel es schwer, sich zu konzentrieren. »Dass sie anders war. Sehr aufgeweckt für ihre Zeit, würde ich sagen. Keine Geduld mit dummen Leuten, aber anscheinend mehr Herz als Tante Phoebe.«
Ein hohles Lachen erklang am anderen Ende der Leitung. »Das ist wohl nicht schwer. Übrigens, hast du was dagegen, wenn ich mir dein Collier leihe für einen Ball? Paul hat mich eingeladen.«
Carolines Hand wanderte automatisch an ihren Hals. »Paul?«, fragte sie, um Zeit zu gewinnen. Sie wollte ihre Perlen nicht verleihen – obwohl sie sie erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit hatte, fühlten sie sich an, als wären sie mit ihrem Hals verschmolzen. Wenn sie sie nachts abnahm, kam sie sich nackt vor. Tante Phoebe war es offenbar genauso gegangen, als sie zum Schluss im Krankenhaus lag und das Personal ihr riet, das Collier ihrem Pfleger mitzugeben, damit er es bei ihr zu Hause deponierte, da man auf der Station nicht für die Sicherheit von Wertsachen garantieren konnte.
»Jemand, den ich kennengelernt habe«,
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