Perlentöchter
hatte ihnen nicht gutgetan. »Das müsste in Ordnung gehen«, sagte Caroline zögernd.
»Dann hole ich dich um zehn ab. Bis morgen.«
Nur wenn sie gemeinsam in einer Situation steckten, aus der sich keine von ihnen befreien konnte, waren ihre Schwester und sie in der Lage, natürlich miteinander umzugehen, dachte Caroline. Bei anderen Gelegenheiten, zum Beispiel während ihrer kurzen Telefonate, ertappte sie sich dabei, dass sie sich wieder in ein Kind verwandelte und die alte Geschwisterrivalität aufflammte, die sich oft eher unterschwellig bemerkbar machte statt in Worten.
Grace war besessen von ihrem Job und tat ständig so, als würde der gesamte Apparat, für den sie arbeitete, sofort zusammenbrechen, wenn sie nicht da war. Caroline hingegen war sich des schrecklichen Bedürfnisses bewusst, dass sie bei jeder Gelegenheit die Kinder ins Gespräch brachte, als wollte sie damit ihre Existenz bestätigen.
Aber nun, auf dem Weg nach Somerset in Graces fabelhaftem, glänzend rotem Cabriolet mit der luxuriösen schwarzen Innenverkleidung aus Leder und ohne eine Spur von leeren Trinkkartons oder Schokoladenpapier, herrschte fast Harmonie zwischen ihnen. Caroline spürte einen kurzen Stich, weil Scarlet nie eine Schwester haben würde. Es gab nichts Vergleichbares, egal, wie verschieden man war. Niemanden desselben Geschlechts, der in derselben Umgebung aufgewachsen war, der Dinge verstand, die niemand, nicht einmal die beste Freundin oder der eigene Mann, verstehen konnte, einfach deshalb nicht, weil sie damals noch nicht präsent waren.
»Ich habe immer noch einen Hals auf dieses Miststück.«
»Grace!«
»Warum soll ich sie nicht so nennen? Es ist schließlich wahr, und außerdem ist sie tot. Ich hoffe, sie trifft unsere Großmutter da, wo sie jetzt ist, und muss Rechenschaft ablegen über das, was sie getan hat.«
Caroline wartete, während Grace einen überdrehten Lastwagenfahrer überholte, der offenbar versuchte, auf ihre Spur hinüberzuziehen. Sie hatte immer Angst davor, jung zu sterben und nicht mehr für ihre Kinder sorgen zu können, so wie damals ihre Großmutter Rose. Carolines Mutter Helen (Roses Tochter) hatte etwas länger gelebt, war aber mit Anfang fünfzig immer noch zu jung gewesen, um zu sterben. War das erblich oder einfach nur Pech?
»Phoebe hatte es sicher nicht leicht.« Caroline beobachtete immer noch nervös den Lastwagen in ihrem Außenspiegel. »Vergiss nicht, sie hatte keine Ahnung von Kindern, als sie mit dreiunddreißig plötzlich Mummy und Frank am Hals hatte. Und nach allem, was man so hört, war Phoebes eigene Mutter Louisa auch nicht gerade eine Vorzeigemutter.«
Grace stieß ein Schnauben aus, das so gar nicht zu ihrem perfekt geschminkten Gesicht, der Designerjeans und dem vorgeblich legeren cremefarbenen Blazer von Reiss passte. »Sie war ein zäher alter Brocken, Carrie. Denk daran, was sie getan hat. Sie hat Onkel Frank in den Keller gesperrt, nur weil er nicht sprechen wollte. Meine Güte, er war erst sechs. Heutzutage werden sechsjährige Waisen getröstet und nicht im Dunkeln eingesperrt.«
»Wir wissen das nicht sicher …«
»Doch, tun wir. Richard hat es mir erzählt.«
Richard war eins von Onkel Franks vielen Kindern, einer aus dem riesigen Clan, zu dem sie auch gehörten und der über die ganze Welt verstreut war. Irgendwie schafften sie es alle paar Jahre, zu einem Cousin- und Cousinentreffen in London zusammenzukommen, nachdem allen deutlich bewusst war, dass sie mittlerweile fast an der Spitze des Familienstammbaums standen. Caroline und Grace freuten sich immer sehr auf das Wiedersehen. Andere mochten noch ihre Eltern haben, aber kaum jemand in ihrem Bekanntenkreis hatte ein so dicht geknüpftes Netz aus Cousins und Cousinen.
»Da wir gerade von Richard sprechen, warum war er eigentlich nicht bei der Beerdigung?«
»Er ist gerade in Kanada oder so.«
Die anderen hatten Caroline bereits zuvor informiert, dass sie verhindert waren, obwohl in den E-Mails eine sanfte Neugier darüber mitschwang, wen ihre kinderlose Großtante wohl in ihrem Testament bedacht hatte. Automatisch wanderte Carolines Hand an ihren Hals, um sich zu vergewissern, dass die Perlen noch da waren. Erstaunlich, wie schnell sie sich an sie gewöhnt hatte! Aber trotzdem war ihr immer bewusst, wie zart sie waren, und irgendetwas in ihr geriet in Panik bei der Vorstellung, dass sie sie verlieren könnte, dass sie irgendwie von der Kette rutschten und dass sie etwas verbummelte, was schon
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