Perlentöchter
sich wünschte, es zu sehen!), aber Miss Hollingswood hatte ihr Bücher mit Bildern von Fossilien und Muscheln wie diesen gezeigt.
»Wie ich bereits erklärt habe, musst du das Geschenk deiner Mitschülerin geben, um dich für dein Benehmen zu entschuldigen.«
Sie sah zu ihrer Mutter, die sie mit einem Blick fixierte, den Rose nicht zu deuten wusste. »Wie Sie wünschen, Papa.«
Er nickte, als wäre er zufrieden. »Und hüte dich davor, wieder einen Anlass zu bieten, der meinen Unmut weckt.« Er nahm seine Uhr aus der Tasche und nickte, als würde er sich selbst zustimmen. »Ich muss nun zu einem Patienten. Ich verlasse mich darauf, dass dieses Gespräch nicht wiederholt werden muss.«
Rose setzte sich zu ihrer Mutter und wartete, bis sie draußen Hufklappern vernahm. Ihr Vater machte seine Runden immer auf dem herrlichen weißen Pferd, das im Stall neben dem Haus wohnte und dessen Schweif gestutzt war, als hätte jemand mit der Schere Hand angelegt. Rose hatte oft das Bedürfnis darüberzustreichen und mit dem Finger die sehr gleichmäßige, gerade Linie nachzuzeichnen.
Na, bitte. Er war weg.
»Geh zu deinem Großvater.« Die Stimme ihrer Mutter war so leise, dass sie sie kaum verstand. »Er erwartet dich.«
Ga Gas Atelier war das übliche herrliche Durcheinander. Genau wie sein Besitzer. Manchmal hörte Rose ihren Vater mit Mama über »das vorrückende Alter deines Vaters« reden, und sie hatte dabei automatisch das Bild von Wellen vor Augen, die hinter Ga Ga zusammenstürzten, wie in der Bibel, wenn das Meer sich teilte. Konnte Ga Ga das auch, wenn das Alter zu nahe kam? Sie hoffte es. Manchmal hatte sie eine schreckliche Vision, in der ihr geliebter Großvater der Wucht des Wassers nicht standhielt und davon verschluckt wurde.
Heute jedoch war das sicher ausgeschlossen! Ga Ga strahlte sie hinter seiner Staffelei an, und die Ablage vor ihm zierten Streifen aus Lila, Ockergelb, Siena und all den wundervollen Farbbezeichnungen, die Rose im Laufe der Jahre gelernt hatte.
»Alles Gute zum Geburtstag, mein liebes Kind!« Er kam hinter seiner Staffelei hervor und hüllte sie in eine warme Umarmung. Rose versuchte zu atmen, aber das war schwierig, da ihre Nase in sein fleckiges Hemd gedrückt war. Der Ölgeruch, der sie an den riesigen Küchenherd unten erinnerte, löste einen starken Niesreiz aus. Dann trat Ga Ga einen Schritt zurück. »Ich habe gehört, du warst im Unterricht nicht nett zu deiner Mitschülerin.«
Rose spürte eine heiße Welle der Entrüstung, ein Wort, das sie erst vor kurzem gelernt hatte und das Lydia zu ihrer Genugtuung nicht beherrschte. »Ich habe nur die Wahrheit gesagt.«
»Ah, die Wahrheit!« Ga Gas Augen leuchteten mit demselben Feuer wie die von Mama heute Morgen, bevor sie es ausgeblasen hatte. »Die Wahrheit erfordert Mut.«
Rose spürte ein großes Schluchzen in ihrer Kehle hochsteigen. »Aber sie haben mich bestraft. Sie haben mir das Auge weggenommen.«
Ihr Großvater stutzte. »Liebes Kind, wovon redest du?«
Die Worte sprudelten nun heraus wie ein Schwall, begleitet von lauten Schluchzern, die aus ihrem Mund entwichen und über ihre Wangen rannen. »Sie wollten mir einen Spiegel schenken. Aber den muss ich jetzt dieser blöden Lydia geben. Dann hat sie das Auge und nicht ich.«
»Sch, sch.« Ga Ga drückte sie wieder an sich, während er dieses Mal ihren Rücken tätschelte. »Denkst du wirklich, das sei das Auge? Ein Handspiegel?«
Sein schallendes Lachen zog wie ein warmer Strom an ihrem Ohr vorüber. Miss Hollingswood sagte, in bestimmten Teilen der Welt gebe es warme Ströme: eins der Wunder, die Rose plante zu besichtigen.
»Nicht doch.« Er ließ sie wieder los, kramte kurz in seinem Schrank und kehrte mit einem Gegenstand in der Hand zurück. Rose wollte nicht hinschauen. Es könnte unhöflich wirken, und sie hatte bereits zu viele Indiskretionen begangen.
»Das Auge, meine liebe Rose, ist ein Talent, mit dem du geboren bist und das, wie ich annehme, die charmante, aber etwas ausdruckslose Lydia übergangen hat.«
Rose wünschte, sie würde das verstehen, aber aus Angst, Ga Ga könnte sie für dumm halten, traute sie sich nicht zu fragen.
»Es ist deine besondere Art, die Farben wahrzunehmen, die Formen und Linien.« Ga Ga hielt ihr nun einen kleinen schwarzen Kasten entgegen. »Na, los. Mach ihn auf.«
Mit zitternden Fingern kam sie seiner Aufforderung nach. Gleich darauf verschlug es ihr den Atem. Vor ihr lag eine Reihe wunderschöner quadratischer
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