Perry Rhodan Neo 012 - Tod unter fremder Sonne
unvermittelt.
Bernhard Frank zuckte zusammen. Er sah auf und registrierte, dass der Mann ihn immer noch nicht direkt ansah. »Fragen Sie!«
»Wäre es Ihnen lieber, wenn ich mich an einen anderen Tisch setzen würde?«
Frank schoss das Blut in den Kopf. »N... nein«, sagte er, viel zu schnell, »wie kommen Sie denn darauf?«
Ja, zum Teufel, dachte er gleichzeitig. Du bist mir unheimlich. Ich mag nicht, wenn mir Leute nicht in die Augen blicken, wenn sie mit mir reden!
»Och«, sagte Thistlenette. »Nur so.«
Damit war das Thema abgeschlossen. Aber in Frank arbeitete es immer noch. Wenn er doch nur wüsste, was ihn an dem Mann so störte!
Sie fuhren weiter, die Zeichnung nahm langsam Formen an. Dann fuhren sie in einen Tunnel. Schlagartig wurde es dunkel.
Es war in den vergangenen Tagen schon ein paar Mal geschehen, dass die Beleuchtung ausgefallen war. Einige Passagiere hatten sich bereits bitter darüber beschwert.
Bernhard Frank störte es nicht. Es war zwar ein wenig unheimlich, aber ein wirkliches Ärgernis, wie es manche Mitreisende darstellten, war es nicht.
Der Zug schaukelte sanft. Auf dem Nebentisch klirrten die Gläser im Takt. Und ...
Frank zuckte erschrocken zusammen.
Er hörte nicht nur die Gläser auf dem Nebentisch weiter vor sich hinklirren – er hörte auch das Grafit des Bleistifts, der weiterhin über das Papier kratzte. Thistlenette zeichnete weiter, obwohl er nicht einmal die Hand vor den Augen sehen konnte!
Kurz darauf schossen sie aus dem Tunnel. Zutiefst bestürzt sah Bernhard Frank Thistlenette an. Dieser blickte ihm nun direkt in die Augen – zum ersten Mal, seit er an ihren Tisch gekommen war.
Und er zeichnete weiter. Unverdrossen, mit kräftigen, sicheren Strichen.
»Sie sind blind, Mister Thistlenette«, stellte Frank entgeistert fest.
»Stört Sie das?«, fragte Thistlenette zurück.
»Aber ... aber wie können Sie zeichnen, wenn Sie doch nichts sehen!«
Thistlenettes Mundwinkel verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. »Seit wann benötigen wir Augen, um zu sehen?«, fragte er. »Genau genommen sind sie dazu eher hinderlich.«
Frank überwand seinen Schock und beugte sich leicht vor. »Sie ... Sie haben auch eine spezielle ... Begabung?«
»Und ich bin nicht der Einzige am Tisch, wie mir scheint«, gab Thistlenette zurück.
Bevor Bernhard Frank oder seine Tochter etwas erwidern konnten, fuhr der Zug in den nächsten Tunnel ein. Nach fünfzehn Sekunden flammte überraschend das Licht auf.
»Er ist verschwunden«, stieß Caroline aus.
Frank blickte sich um, vermochte den Mann auch nicht ausfindig zu machen.
»Jetzt habe ich ein ganz schlechtes Gewissen«, sagte er. »Ich war unhöflich zu ihm und konnte mich nicht entschuldigen.«
»Es hat dich irritiert, dass er dir nicht in die Augen geblickt hat?«
»Ja.«
»Mich zuerst auch«, sagte Caroline. »Aber gleichzeitig spürte ich etwas Vertrautes, Verbindendes.«
Bernhard Frank stutzte und deutete auf das Blatt Papier, das vor ihnen auf dem Tisch lag. Carolines Porträt.
»Er hat es liegen gelassen.«
Caroline nahm das Blatt auf. »Ich glaube es nicht«, sagte sie verblüfft. »Die Großeltern!«
Frank runzelte die Stirn, nahm ihr den Papierbogen aus der Hand. Tatsächlich hatte er nicht nur Caroline gezeichnet. Im Hintergrund hatte er mit wenigen Linien die Gesichter seiner Eltern gezeichnet, Carolines Großeltern.
Sie lebten nicht mehr, waren vor ein paar Jahren nach einem erfüllten Leben kurz nacheinander gegangen.
»Wie hat er sie zeichnen können?«, fragte er. »Er kannte sie doch gar nicht.«
Caroline blickte ihn an. »Seine Gabe. Er kann in einer Weise in Menschen hineinschauen, die anderen verborgen ist.«
»Und er sieht, obwohl er blind ist«, fügte Frank hinzu. »Ich hoffe, dass wir ihn nochmals treffen, bevor wir in Irkutsk aussteigen, damit ich mich entschuldigen kann.«
Caroline nahm seine Hand. »Ich hätte auch gern mit ihm gesprochen. Ich hätte noch tausend Fragen zu seiner Gabe gehabt. Es ist das erste Mal, dass ich jemanden getroffen habe, der ebenfalls ... speziell ist. Aber ich denke nicht, dass wir ihn nochmals sehen werden. Sonst hätte er sich nicht einfach so weggestohlen. Er will nicht darüber sprechen, bevor er bei Rhodan ist. So kam es mir zumindest vor.«
»Aber er sollte wissen, dass es mir leidtut, wie ich ihn behandelt habe.«
»Paps«, sagte Caroline sanft. »Wenn er wirklich in uns hineinblicken kann, weiß er, dass du es nicht böse gemeint hast, sondern nur
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