Persilschein
Wechsel. Wann immer es seine Zeit erlaubte, stand er vor dem Personaleingang des Kaufhauses in der Bochumer Innenstadt, um auf Pauly zu warten.
Mehrere Wochen blieben seine Bemühungen erfolglos. Der Richter tauchte nicht auf. Hatte die Staatsanwaltschaft doch recht gehabt und sein Aufenthaltsort war wirklich nicht festzustellen?
Schließlich änderte er seinen Plan. Wenn er Pauly schon nicht direkt stellen konnte, musste er es eben über seinen Onkel Wolfgang Müller versuchen. Dem Bild nach zu urteilen, schienen sich der Nazirichter und der Bruder des Denunzianten näher zu kennen. Natürlich konnte es auch Zufall sein, dass die beiden auf dem Foto so eng nebeneinanderstanden. Trotzdem war Müller seine einzige Chance, an Pauly heranzukommen. Deshalb begann er, ihn zu beschatten, sooft es ging.
Es wunderte ihn nicht, dass er dabei Zeuge eines Mordes geworden war, sondern es bestätigte seine Meinung, dass alle Nazis Verbrecher waren.
Zwei Tage lang hatte er überlegt, zur Polizei zu gehen, und sich schließlich dagegen entschieden. Die Polizei hätte Wolfgang Müller aufgrund seiner Aussage festgenommen – wie aber sollte er dann Pauly finden? Und die junge Frau, die überraschend am Tatort aufgetaucht war? Hatte sie den Mord beobachtet? Was, wenn sein Onkel ihretwegen verhaftet werden sollte?
Aber Wolfgang Müller wurde nicht verhaftet, sodass Konrad Müller seinen Verwandten weiter observierte.
Es war Zufall, dass er ihn an diesem Samstagmorgen nicht endgültig aus den Augen verlor. Auch an diesem Tag wollte er die Wohnung seines Onkels aus sicherer Entfernung beobachten. Irgendwann musste dieser verdammte Richter doch den Kontakt mit ihm suchen.
Als Konrad Müller aus der Straßenbahn stieg, erspähte er seinen Onkel an der Haltestelle auf der anderen Straßenseite. Er wartete augenscheinlich auf die Bahn. Hatte er sein Haar nicht vor einigen Tagen noch länger getragen? Und der Bart war Konrad bisher auch nicht aufgefallen. Doch er hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn als die Bahn vorfuhr und sein Onkel einstieg, musste sich Konrad beeilen, um als einer der letzten Fahrgäste in den Wagen zu springen.
Müller folgte seinem Onkel nach Wanne-Eickel und weiter nach Gelsenkirchen, befürchtete ständig, dass diesem die Observation auffiel. Aber obwohl Wolfgang Müller sich häufiger umsah, schien er ihn nicht zu bemerken. Glücklicherweise kannte sein Onkel ihn nur vom Hörensagen, er würde ihn nicht erkennen.
Schließlich beobachtete Konrad Müller, wie sein Verwandter ein Hotel betrat, und er beschloss, das zu tun, was er schon seit Tagen tat. Warten.
26
Montag, 2. Oktober 1950
Wie immer fand ihr Treffen im Herner Stadtpark statt. Es regnete leicht. Klaus Glittner war bereits da und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er erkannte Hans Allemeyer an seinem schleppenden Schritt und ging ihm entgegen.
Allemeyer streckte die Hand zur Begrüßung aus. »Schön, dass du kommen konntest.«
»Gibt es etwas Neues von den Visa? Wann können wir fahren?«
»Wir müssen uns noch etwas gedulden. Der Kontaktmann meines Onkels in der Botschaft ist derzeit nicht zu erreichen. Möglicherweise trifft er ihn in der nächsten Woche.«
»Wir warten schon so lange. Meinst du, dein Verwandter will uns hinhalten?«
»Das denke ich nicht. Welchen Grund sollte er haben?«
»Wir wissen zu viel.«
»Na und? Außerdem wäre das eher ein Anlass, uns loszuwerden. Nein, er möchte uns wirklich helfen. Schließlich haben wir ja so einiges für ihn getan.«
»Hoffentlich liegst du da richtig.«
»Wenn du ihm misstraust, müsstest du auch mir misstrauen. Letztendlich sind wir eine Familie.«
Glittner lachte auf. »Blut ist dicker als Wasser? Daran glaubst du doch selbst nicht.«
Sie näherten sich einer Wegkreuzung, die von Büschen gesäumt war. Kurz bevor sie diese erreichten, bogen zwei Polizisten um die Ecke und kamen zielstrebig auf sie zu. Einer der beiden blau Uniformierten schob diensteifrig seinen Tschako gerade.
»Wenn die uns kontrollieren, bleib bloß ruhig«, raunte Allemeyer seinem Kumpan zu.
»Aber unsere Papiere …«
»Halt die Klappe«, flüsterte Allemeyer nur.
Eine Minute später war es so weit. Die beiden Polizisten blieben stehen, legten die Hand an ihre Kopfbedeckung und grüßten.
»Die Papiere bitte«, forderte der ältere der beiden Beamten.
»Liegt etwas an, Herr Wachtmeister?«, fragte Allemeyer gelassen, während er in seiner Jackentasche suchte.
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