nicht schlafen kannst.«
Schwarz schlurfte Richtung Toilette und ahnte nicht, dass sie der Ort einer Eingebung werden sollte. Die kam allerdings nicht sofort, sondern erst am Ende einer langen Reihe lose verknüpfter, morgendlich trüber Gedanken. Während er so dasaß, wurde ihm als Erstes bewusst, dass sein Alptraum ihnschon seit einigen Nächten verschont hatte. Er traute dem Frieden zwar noch nicht ganz, hatte aber offenbar gut daran getan, sich noch einmal mit Burgers Suizid auseinanderzusetzen. Dann dachte er an den Lokführer Engler und überlegte, wie es dem wohl inzwischen ergangen war. Ob er wieder regelmäßig fuhr? Die drei ominösen Männer fielen ihm ein und der süße Bienenstich in der Konditorei. Der würde meiner Mutter schmecken, dachte er. Und plötzlich wurde es hell in seinem Kopf.
Das Eisenbahnerviertel!
Ja, das war es! Dort könnte es ihr gefallen. Es war wie ein Dorf mitten in der Stadt, mit Läden, Kneipen und begrünten Innenhöfen. Auch die Bewohner waren, zumindest auf den ersten Blick, von einer ähnlichen Bodenständigkeit, wie seine Mutter sie aus Waldram kannte. Bloß, wie kam man dort an eine Wohnung? Wenn er sich recht erinnerte, hatten die Bahn die ganze Siedlung vor einigen Jahren an eine Immobiliengesellschaft verscherbelt. Viele Eisenbahner hatten die Gelegenheit genutzt und die Wohnung, in der sie lebten, gekauft. Die Frage war, ob in der Siedlung inzwischen auch vermietet wurde. Vielleicht konnte Thomas Engler helfen. Er war im Eisenbahnerviertel groß geworden und hatte als Mitarbeiter der Pressestelle der Bahn sicher die besten Kontakte.
Doch als seine Mutter ihm den Espresso mit einem Tropfen Milchschaum reichte, beschlichen Schwarz schon wieder Zweifel. Egal, wie sympathisch das Eisenbahnerviertel war und wie schön die Wohnungen dort sein mochten: Sie würde sich abgeschoben fühlen.
Er nahm einen Schluck. »Sehr gut.«
Sie lächelte charmant wie ein junges Mädchen.
Es ist ja nicht so, dachte er, dass unsere merkwürdige Wohngemeinschaft die Hölle wäre. Eine Weile halte ich es schonnoch mir ihr aus. Von meiner Idee mit dem Eisenbahnerviertel kann ich ihr ja immer noch erzählen. Wir haben Zeit.
9.
Die Sache ließ Novalis keine Ruhe. Nachdem Cobain nicht mehr im Forum aufgetaucht war, hatte er ihm an die Adresse
[email protected] eine Mail geschrieben und ihn gebeten, sich zu rühren. Sogar seine Handynummer, die er sonst keinem Menschen gab, hatte er ihm geschickt, aber keine Antwort bekommen. Er hatte auch Amok gemailt, aber eine Fehlermeldung erhalten. Wahrscheinlich hatte dieser bei seiner Anmeldung im Forum wie die meisten User eine Wegwerf- E-Mail -Adresse benutzt, die danach wieder deaktiviert wurde. Über die Telefonauskunft hatte Novalis erfahren, dass es in München drei Teilnehmer mit dem Namen Matthias Sass gab. Der erste hatte ihn auf die Frage, ob er ein Suizid-Forum frequentiere, für verrückt erklärt, der zweite sich alles erklären lassen, um sich dann nach den Modalitäten einer Mitgliedschaft zu erkundigen. Unter der dritten Nummer hatte er bislang trotz mehrerer Versuche niemanden erreicht.
In Novalis’ Leben gab es niemanden mehr, mit dem er sich hätte beraten können. Die Verbindung zu seinen Freunden in Mühldorf war abgerissen, nachdem er zum Studieren in die Stadt gegangen war. Von den wenigen Bekannten in München hatte er, seit er nur noch für sein Forum lebte, nichts mehr gehört. Er war, auch wenn er Tag und Nacht mit Menschen kommunizierte, völlig allein. Aber obwohl seine Wirklichkeit sich mehr und mehr auf drei Monitore verengt hatte, wurde er das Gefühl nicht los, dass sich irgendwo da draußen ein großes Unheil zusammenbraute.
Er wählte erneut die Nummer. Er hörte das Freizeichen und wartete. Als er gerade auflegen wollte, wurde auf der anderen Seite abgehoben.
»Matthias Sass. Hallo?«
Die Stimme klang jung und unsicher.
»Ich bin’s, Novalis.«
Matthias schwieg.
»Ich würde dich gern treffen.«
»Wieso?«
»Ich möchte mit dir reden – über Tim Burger.«
»Über Tim?«
»Ich habe etwas entdeckt, was nicht ins Forum gehört.«
Er wartete gespannt, ob Matthias auf den Köder ansprang.
»Und was?«
»Wo können wir uns sehen?«
Matthias schwieg lange, Novalis dachte schon, er hätte aufgelegt. Dann war plötzlich jemand anderer am Apparat. »Lass ihn in Ruhe, Novalis«, sagte er scharf. »Er braucht dich und dein Scheißforum nicht mehr.«
Amok? War das Amok?
Dann wurde die Verbindung