Personenschaden
unterbrochen.
10.
Schwarz fuhr wie immer mit dem Fahrrad zum
Dienst in der Karibik
, so nannte er selbst seinen Job als Wachmann beim Honorarkonsulat eines karibischen Kleinstaats. Der Blick auf das Thermometer an seiner Hausapotheke warf ihn beinahe aus dem Sattel: 28 Grad. Und das abends um halb acht. Er beneidete Menschen, die kein Problem damit hatten, ihr welkes Fleisch zur Schau zu stellen. Er selbst hatte sich noch nie dazuüberwinden können, kurze Hosen zu tragen. Dafür büßte er jetzt, genauso wie für die Wahl seines Hemds. Schon nach wenigen hundert Metern klebten die langen Flanellärmel wie nasse Lappen auf seiner Haut.
Schwarz beschloss, nicht zu leiden, sondern die Hitze zu ignorieren. Er versuchte, seinen schwitzenden Körper nicht mehr zu fühlen und sich dafür ganz auf das zu konzentrieren, was er sah.
Von seiner Haustür bis zur
Karibik
waren es genau 2,9 Kilometer
.
Da Schwarz die Strecke seit über drei Jahren mehrmals wöchentlich zurücklegte, sollte er eigentlich jedes Haus und jeden Baum kennen.
Aber dazu veränderte die Landsberger Straße sich zu schnell. Über Nacht verschwanden Läden, die zwar über Jahrzehnte nur ein kümmerliches Dasein gefristet, aber doch zum spröden Charme der Straße beigetragen hatten. Dafür wuchsen ständig neue Büro-, Verwaltungs- und Shoppingcenter hinter Bauzäunen hervor und verdrängten die türkischen und ex-jugoslawischen Gebrauchtwagen- und Reifenhändler. Statt auf schlecht sanierte Fassaden aus den fünfziger Jahren blickte er nun auf Beton, Stahl und getöntes Glas. Bald würden die letzten Brachflächen und der Straßenstrich verschwunden sein, dann war auch die Zeit für die zahlreichen Friseure an der Landsberger Straße abgelaufen und mit ihnen die der Nagelstudios und Bistros.
Die Straße würde zur Verwaltungswüste werden und dabei so hässlich bleiben wie eh und je – aber es war mit Sicherheit nicht mehr die ehrliche Hässlichkeit, die Schwarz so liebte.
Die Landsberger sehen, heißt München verstehen. Zu dieser kühnen Behauptung verstieg Schwarz sich manchmal, weil jede Epoche der letzten hundert Jahre der Straße ihren Stempel aufgedrückt hatte. Hier begegnete man dem dekorverliebtenBürgerstolz der Gründerjahre, dem tumben Protz der Nazis, der spröden Funktionalität des Wiederaufbaus, der bemühten Modernität der siebziger Jahre und der Selbstverliebtheit der Postmoderne. Schwarz überlegte, was die Fassaden, die dieser Tage entstanden, wohl einmal über unsere Zeit und die Menschen, die hinter ihnen lebten und arbeiteten, erzählen würden.
Er hatte keine Idee und beschloss, mit dem Philosophieren, das in seinem Fall ja doch nur eine gehobene Form des Grantelns war, aufzuhören.
Sofort spürte er wieder die Hitze.
Mittlerweile war seine Kleidung so nass, als wäre er damit durch das nahe ›Westbad‹ geschwommen. Der Schweiß lief ihm in die Augen, die Haare standen ihm wirr vom Kopf. Ihm war bewusst, dass er alles andere als respekteinflößend wirkte. Aber das war auch nicht nötig. In seiner gesamten Zeit als Wachmann in der
Karibik
hatte er keine einzige, auch nur annähernd gefährliche Situation erlebt. Er fragte sich, wieso das Konsulat eines Staates, den kein Mensch kannte, überhaupt bewacht werden musste. Das Pfefferspray jedenfalls, das er an diesem Abend in seiner Hosentasche mitführte, war nicht für den Einsatz im Dienst bestimmt.
»Happy birthday, Anton!« Cindy, die nichts als weinrote Hotpants und einen schwarzen Latex-BH trug, lehnte aufreizend an ihrem Wohnmobil. »He, was ist los mit dir? Was machst du denn für ein finsteres Gesicht?«
Schwarz brummte missmutig.
»Komm rein, ich habe einen Ventilator und Sekt.«
»Du weißt doch, dass ich keinen Sekt mag.«
»Und? Haben dir schon viele gratuliert?«
Schwarz schüttelte den Kopf. Er hatte morgens das Telefon von der Leitung genommen, sein Handy erst gar nicht angeschaltetund den Briefkasten ignoriert. Ihm zum Fünfzigsten zu gratulieren – diesen Triumph gönnte er niemandem.
»Aber ein bisschen gefeiert hast du schon?«
»Meine Mutter hat einen Guglhupf gebacken. Beim Ausblasen der Kerzen habe ich ihn noch schön mit Wachs verziert.«
Cindy, die eigentlich Heike hieß und aus Duisburg stammte, lachte. »Lust auf eine schnelle Nummer? Wäre gratis zur Feier des Tages.«
Schwarz schüttelte den Kopf. Er hätte seine Freundschaft zu Cindy niemals für schnellen Sex aufs Spiel gesetzt – ob gratis oder nicht. Er reichte ihr
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