Pestmond (German Edition)
Corleanis war anscheinend der Meinung, dass damit nun alles gesagt war, was zu sagen war, denn er wandte sich ohne ein weiteres Wort um und ging. Wenigstens setzte er dazu an, doch dann machte er mitten in der Bewegung halt, und ein halb nachdenklicher, halb erschrockener Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.
Beunruhigt sah Andrej in dieselbe Richtung wie er und erblickte eine schmale Gestalt mit verschleiertem Gesicht und schwarzem Mantel, die sich der Steilküste genähert hatte. Noch nicht so nahe, dass es wirklich gefährlich gewesen wäre, aber dennoch näher, als ihm lieb war. Wenn er die Höhe dieses Hügels richtig einschätzte, dann ging es dahinter mindestens siebzig oder achtzig Fuß steil in die Tiefe.
»Ayla!«, rief er. »Bleib stehen!«
Ayla hielt nicht an, sondern beschleunigte ihre Schritte ganz im Gegenteil noch, bis sie die Klippe erreicht hatte und sich nicht nur unmittelbar davor in die Hocke sinken ließ, sondern sich zu seinem blanken Entsetzen auch noch mit den Händen abstützte und vorbeugte.
»Ayla, verdammt, du sollst …« Andrej verzichtete darauf, den Rest des Satzes auszusprechen, und ging stattdessen mit weit ausgreifenden Schritten los, wobei er gegen den Impuls ankämpfen musste, tatsächlich zu rennen. Wo war überhaupt Ali, dieser Narr? Hatte er nicht versprochen, auf sie aufzupassen?
»Du würdest eine gute Kinderfrau abgeben, hat man dir das schon einmal gesagt?«, kicherte Abu Dun hinter ihm – als ob Andrej das nicht schon seit mehr als dreihundert Jahren nicht nur wüsste, sondern auch Tag für Tag in die Tat umgesetzt hätte! Aber immerhin schloss er sich ihm an, und Andrej konnte hören, dass auch Corleanis und die drei Männer in seiner Begleitung dasselbe taten.
Sein ungutes Gefühl nahm noch zu, als er sich der jungen Frau näherte. Sie saß tatsächlich unmittelbar am Rand der Klippe auf den Knien und stützte sich zwar mit beiden Händen ab, beugte sich aber zugleich auch so weit nach vorne, dass Andrej geradezu zu spüren meinte, wie die Schwerkraft an ihr zerrte.
»Bist du verrückt geworden?«, fuhr er Ayla an, während er sie zugleich an der Schulter ergriff und grob auf die Füße zerrte. »Was soll der Unsinn? Willst du dich umbringen?«
Ayla riss sich mit einer heftigen Bewegung los und funkelte ihn mindestens genauso zornig an. »Die Ziege!«, stieß sie hervor. »Sie ist weggelaufen und … und dort hinabgestürzt!«
»Und was hattest du vor?«, polterte Andrej. »Hinterherspringen und dich auch noch umbringen?«
»Ich dachte, du magst keine Ziegen?«, mischte sich Abu Dun ein, ging aber trotzdem in die Hocke und beugte sich deutlich behutsamer vor, als Ayla es gerade getan hatte.
»Diese schon«, erwiderte die junge Frau in fast patzigem Ton. »Sie war niedlich, und … und ich hatte die Verantwortung für sie. Sie versuchte sich loszureißen, aber Andrej hielt sie weiter mit unerbittlicher Kraft fest, selbst auf die Gefahr hin, ihr wehzutun.
»Das ehrt dich, Kind, aber es ist noch lange kein Grund, dein eigenes Leben in Gefahr zu bringen«, mischte sich Corleanis ein. Mit einer Stimme wie der seinen gesprochen klangen die Worte noch ein bisschen herzloser, als sie ohnehin schon gemeint waren. »Es ist nur eine Ziege. Wir werden den Verlust verschmerzen.« Und ihm ihrem Vater ganz gewiss in Rechnung stellen. Mehrfach.
»Aber sie ist noch am Leben!«, protestierte Ayla und versuchte sich erneut loszureißen. »Ich muss sie retten!«
»Das ist Unsinn, und …«
»Damit hat sie recht«, sagte Abu Dun. »Dass sie noch lebt, meine ich.«
Andrej sah überrascht in seine Richtung, übergab Ayla in Corleanis Obhut und trat vorsichtig an seine Seite. Er hatte sich getäuscht: Das Meer lag mindestens hundert Fuß weit unter ihm, wenn nicht noch deutlich mehr, aber Abu Dun hatte die Wahrheit gesagt: Die junge Ziege befand sich nur ein Stück unter ihnen auf einem schmalen Felsvorsprung, benommen, aber zumindest dem ersten Eindruck nach unversehrt, und als hätte sie seinen Blick gespürt, hob sie genau in diesem Moment den Kopf und begann herzzerreißend zu jammern.
»Ich habe euch doch gesagt, dass sie noch lebt!« Ayla riss sich los und war mit einem Satz so dicht neben ihm, dass er schon wieder erschrocken den Arm ausstreckte, um sie zurückzuhalten. Natürlich ließ sie das nicht zu, sondern schlug seine Hand beiseite und fiel neben ihm auf die Knie.
»Sie lebt noch! Ihr müsst sie retten!«
Andrej ließ sich tatsächlich auf den Bauch sinken und
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