Pestsiegel: Historischer Kriminalroman (German Edition)
hatte keine Ahnung, wo ich war. Der Mond war nur ein schmaler Streifen, doch das Eis warf sein Abbild in einem unheimlichen Schimmer zurück. Ich lehnte mich gegen eine schmierige Wand und kam langsam wieder zu Atem. Ich konnte sie nicht einmal hören, so vorsichtig mussten sie sich mir genähert haben. Als ich aufblickte, sah ich am einen Ende der Straße Crows kräftige Silhouette. Am anderen stand der Mann mit dem Biberhut, die Hand am Schwert. Sie waren sich meiner so sicher, dass sie sich nicht einmal rührten. Ich bewegte mich ebenso wenig. Es schien sonderbar, doch einen Moment lang waren sie mir fast willkommen. Es lag nicht daran, dass ich es müde war, davonzulaufen; es war das, was Luke gesagt hatte.
»Ich hörte, dass Anne jemand anderem versprochen sei.«
Selbst wenn es nur ein Wirtshausgerücht war, welche Hoffnung gab es noch für mich? Schließlich hatte ich bei der Bibel geschworen, sie nie wieder aufzusuchen. In diesem Augenblick, als wir drei dort standen wie zu Eis erstarrt, fand ich einen Moment lang, dass es besser sei zu sterben, als sie nie wieder zu sehen. Doch meine Instinkte und meine Beine trieben mich in eine enge Straße. Crow und Gardiner hatten es nicht eilig, mir zu folgen, und schon bald fand ich heraus, warum. Die Straße führte zu einer Kirche, die zwischen zwei engen Gassen eingezwängt war. Das Tor zum anderen Gang war versperrt.
»Wie bequem«, sagte Gardiner zu Crow, zog sein Schwert und schwang es in Richtung des Friedhofs, der über eine schmale Treppenflucht zu erreichen war. Viele Kirchen waren mitten in die Stadt hineingezwängt worden, wo die Menschen im Leben wie im Tod um ein wenig Raum kämpften. Sie alle wollten auf ihrem eigenen Stück geweihten Bodens begraben werden, und so war dieser Friedhof, wie viele andere auch, überfüllt. Auf einer Seite der Treppe stand ein Haufen Särge, die noch nicht begraben waren. Crow deutete mit einem Grinsen darauf.
»Vielleicht können wir uns einen von denen da ausleihen.«
Ich rannte die Treppe hoch, umklammerte mein Messer und duckte mich hinter die unebenen, wackeligen Särge. Oben auf lag eine Leiche in einem Leichentuch.
»Willst du uns die Arbeit erleichtern, Tom?«, spottete Gardiner. Er hob sein Schwert.
Totengräber wurden, genau wie die Straßenkehrer, in der Krise nicht entlohnt, oder sie beteiligten sich an den Aufständen oder hatten sich den Bürgergarden angeschlossen. Der Abfall sammelte sich, Leichen wurden nicht beerdigt. Beim Gestank des verrottenden Fleisches stieg mir die Galle in den Mund. Als Gardiner begann die Stufen zu erklimmen, riss ich das Leichentuch von dem toten Körper. »Dieser hier ist an der Pest gestorben.«
Gardiner lachte und holte mit dem Schwert aus, bereit, voranzustürmen. »Du lügst! Du würdest dich niemals in seine Nähe wagen.«
»Ich bin ein Pestkind!«, schrie ich und stieß den Leichnam auf die oberste Stufe. Langsam wich Gardiner zurück und steckte sein Schwert in die Scheide. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Erschieß ihn«, sagte er sachlich.
Jetzt sah ich, dass Crow eine Pistole hatte. Ich starrte hinunter auf den langen Lauf, erkannte jede gezogene Rille, sah Crows Auge hinter der Kimme und betete für mein Leben. Ich bat Gott um Vergebung, dass ich mir je den Tod gewünscht hatte, doch dann sah ich einen blendend hellen Blitz und empfand einen reißenden Schmerz, ehe alles von mir abglitt, als fiele ich in eine dunkle, bodenlose Grube.
13. Kapitel
Die Hölle ist es, nichts zu wissen. Nicht zu wissen, woher die Stimmen kommen oder was sie sagen. Die Hölle besteht aus sengendem Feuer und tropfendem Schweiß, aus Schmerz, von dem man nicht will, dass er wirklich aufhört, denn wenn er es täte, dann würde alles nur von Neuem beginnen, und Warten war das Schlimmste. Nein, das ist nicht wahr. Die Narbe war das Schlimmste, genau, wie Matthew es mir gesagt hatte. Darum schloss ich die Augen, tat, als würde ich schlafen, sobald jemand den Raum betrat.
Da war der Mann mit der Narbe, und ein weiterer Mann. Da war ein Arzt, der meinen Arm schiente und verband. Er hätte mich zur Ader gelassen, aber die Narbe sagte, ich hätte um Himmels willen schon genug Blut verloren. Da war ein Mädchen in Schwarz, das sie Jane nannten. Sie hatte ruhige Hände, zog die Vorhänge zurück, entzündete das Feuer und ließ mir etwas zu essen da. Als das Fieber ein wenig nachließ, begann ich davon zu kosten, aber nur, wenn ich allein war.
Eines Tages schlürfte ich
Weitere Kostenlose Bücher