Pfad der Schatten reiter4
entscheidenden Fehler gemacht. Sie hätte den
Wald nicht betreten sollen, ehe sich das Buch von Theanduris Silberholz in ihrem Besitz befand. War es möglich, dass es ihrem Volk nicht gelungen war, sich seiner zu bemächtigen, und dass die Sacorider es nun dazu benutzten, den Wall zu heilen? Dies konnte sie nicht herausbekommen, indem sie durch Birchs Augen sah – er war mit seiner eigenen Aufgabe beschäftigt.
Sie hätte auf das Buch warten sollen, aber Gott hatte ihr ganz deutlich befohlen, die Schläfer zu wecken. Vielleicht verfolgte er seinen eigenen Plan, aber in dem Fall war ihr dieser Plan verborgen.
Großmutter seufzte und klammerte sich an Min fest. Ihr Körper zitterte, weil die Visionssuche sie so viel Kraft gekostet hatte. Zu ihrer Überraschung war das Feuer bereits ziemlich weit heruntergebrannt, aber Lalas Kunst färbte noch immer die Flammen.
»Ich muss mich jetzt ausruhen«, sagte Großmutter zu den anderen.
Als Min ihr dabei half, eine Decke auf dem Boden auszubreiten, begriff sie, dass das, was geschehen war, nun einmal geschehen war. Falls die Sacorider das Silberholz-Buch tatsächlich in ihren Besitz gebracht hatten und nun jemand da war, der die Begabung der Kunst besaß und dem Wall durch Gesang Kraft gab, dann konnte sie nur noch eines tun, um die Wiederherstellung des Walls zu verhindern: Sie musste den Sänger vernichten.
Als sie sich mit Mins Hilfe auf die Decke sinken ließ, plante sie bereits, wie sie diese Aufgabe erfüllen würde.
AMBERHILLS REISE BEGINNT
Der Morgen dieses ersten Frühlingstags begann wunderschön. Eine frische Brise vom Meer kräuselte die Gewässer im Hafen von Corsa, und die Sonne spiegelte sich in den Wellen. Es war Flut, und Kapitän Irvine beaufsichtigte das Stauen der Ladung im Bauch seines Schiffes Ullem Königin , die für die Provinz Coutre bestimmt war. Amberhill beobachtete, wie einige seiner Besitztümer verladen wurden, aber Yap passte ganz genau auf und wies die Träger an, nur ja nichts fallen zu lassen.
Amberhill stand in der typischen Haltung des Edelmannes am Kai und trug inmitten des Lärmes und des Durcheinanders von vier Schiffen, die zugleich beladen und gelöscht wurden, eine gelangweilte Maske zur Schau. Er ließ sich nicht dazu herab, aus dem Weg zu gehen, wenn Hafenarbeiter, Matrosen, Händler, Fischer oder sonst irgendjemand sich eilig an ihm vorbeidrängten. Sie alle hatten gefälligst ihm auszuweichen.
Während er alles beobachtete, prägten sich ihm die Einzelheiten ein – Kormorane, die neben den verankerten Schiffen auf dem Wasser schaukelten, entnervte Träger, die alle möglichen Waren, von schnatternden Hühnern bis zu Tabakballen, auf die verschiedenen am Kai festgemachten Schiffe schleppten oder sie den Matrosen zuwarfen, die unten in Beibooten warteten. Ein Matrose ohne einen Funken Pferdeverstand versuchte, einen scheuenden Hengst über ein Fallreep auf eines der Schiffe zu zerren. Der Hengst brüllte vor Entsetzen und
warf seinen Kopf herum, sodass der Matrose am anderen Ende seines Halfters das Gleichgewicht verlor, von der Planke fiel und platschend ins Hafenwasser stürzte.
Münzen wechselten die Hand, und schmutzige Straßenkinder erleichterten ahnungslose Passagiere, die auf dem Kai herumstanden, um ihre Geldbeutel. Er packte einen Taschendieb am Handgelenk, als der Junge gerade nach seinem eigenen Beutel grapschte. Der Straßenjunge starrte ihn mit großen, ängstlichen Augen an. Amberhill schüttelte knapp den Kopf und ließ den Jungen los, der auf der Suche nach leichterer Beute davonstob.
Überladene Händlerkarren, auf denen sich Kisten und Säcke und Fässer und Ballen türmten, verstopften den Kai. Amberhill fand die Ladung weniger faszinierend als die Händler selbst. Die meisten waren elegant gekleidet und ließen sich nicht dazu herab, beim Weitertransport der Waren auf Deck oder von Bord mitzuhelfen, sondern überließen diese Schmutzarbeit ihren Untergebenen und machten sich Notizen in ihren Geschäftsbüchern. Alle bis auf einen.
Dieser Kaufmann warf seinen gut geschnittenen Überrock beiseite, rollte die Ärmel hoch und packte beim Entladen eines Schoners und dem Bepacken eines Wagens mit Gewürzen, Zuckerrohr und vermutlich exotischen Früchten mit an. Die Matrosen an Bord dieses Schiffes waren braun gebrannt. Amberhill erriet, dass dieses Schiff mit den Wolkeninseln Handel getrieben hatte.
Der Kaufmann selbst war nicht gebräunt, also war er wahrscheinlich nicht selbst mitgesegelt, aber das
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