Pfad der Schatten reiter4
bin noch nicht so weit, das alles allein zu machen. Bitte, stirb nicht.«
Schon ihre erste Liebe, F’ryan Coblebay, war an einer Pfeilwunde gestorben. Sie glaubte nicht, dass sie einen solchen Verlust noch einmal verkraften würde.
DER WEG DES LICHTS
Als Karigans Stiefel den Boden des Schwarzschleierwaldes auf der anderen Seite des Walles berührten, hatte sie das Gefühl, schon wieder vor einer Mauer zu stehen, aber diesmal bestand sie aus wabernden Nebeln, die zwischen ihren Kameraden wehten und einige in Grau hüllten, während andere deutlich sichtbar waren. Aus dem Dunst ragten die Äste von Bäumen, verkrümmt, unförmig, verschwommen.
Außerdem stand sie vor einer Mauer des Schweigens. Ihre Gefährten sprachen nicht. Die Eleter standen so still, dass man sie für uralte Statuen aus dem verlorenen Argenthyne hätte halten können. Lynx senkte den Kopf und hielt sich die Ohren zu, als würde die Stille ihm wehtun. Die anderen stierten in den Wald und versuchten, den Nebel zu durchdringen, die Hände am Heft ihrer Schwerter.
»Der Geruch der Angst.« Graelalea hatte sich lautlos neben Karigan geschoben.
»Was ist mit mir?«, fragte Karigan. »Stinke ich auch nach Angst?«
Graelalea entgegnete nichts, aber Karigan konnte die Antwort erraten. Was die Eleter anging, blieben ihre Gesichter unbewegt. Empfanden sie Furcht? Verzweiflung? Empörung darüber, was aus ihrem uralten Land geworden war?
Als Karigan Graelalea erneut ansah, sah sie zu ihrer Überraschung ein paar Tränen über die Wangen der Eleterin rinnen.
Karigan beobachtete, wie sie auf den Waldboden prallten und zwischen dem vermoderten Unkraut und dem Schlamm zerplatzten.
Trauer , dachte Karigan . Sie empfinden Trauer.
Graelalea ging zu Lynx hinüber. Sie zog seine Hände von seinen Ohren und sprach leise mit ihm.
»Ich höre alles und nichts«, antwortete er. »Als würde die ganze Welt heulen.«
Graelalea sagte noch etwas, und Lynx nickte.
»Ich werde es versuchen.« Er schloss einige Augenblicke die Augen, und sowohl seine Züge, als auch seine Körperhaltung entspannten sich. Als seine Augen wieder aufblitzten, sagte er: »Ja, es hat funktioniert. Jetzt ist es nur noch ein leises Murmeln.«
»Wir müssen aufbrechen«, verkündete Graelalea, und mehr brauchte die Gruppe nicht zu hören, um sich hintereinander aufzureihen. Auffallend war, dass Grant seine Führungsrolle ohne ein einziges Wort aufgab, und Graelalea nahm die vorderste Position ein, als hätte darüber nie ein Zweifel bestanden.
Sie liefen los und wandten sich am Wall entlang nach Osten. Es gab eine Straße, die sie erreichen mussten, erinnerte sich Karigan, wenn auch mehr aus Altons Berichten als aus eigener Erfahrung: eine alte eletische Straße, die den Wall kreuzte. Sie gingen schweigend, Karigan in der Mitte der Reihe, hinter Yates und vor Ard. Yates drehte sich zu ihr um und grinste, sah aber nicht mehr besonders munter aus.
Karigan verschob das ungewohnte Gewicht ihres Rucksacks auf den Schultern und schnitt eine Grimasse, weil ihre Infanteriestiefel so hart waren. Sie hätte wirklich versuchen sollen, sie vorher ein bisschen einzulaufen. Nun hoffte sie, dass sie sich nicht die Füße wund lief. Sonst würde sie den Wanderstab, den ihr die Waffen gegeben hatten, nicht nur brauchen,
um sich gelegentlich abzustützen. Im Moment war er noch an ihrem Rucksack festgebunden.
Die Gedanken an ihre körperlichen Mühen halfen ihr, sich von der viel größeren Sorge wegen der Bedrohung des Waldes abzulenken, konnten sie aber nicht ganz unterdrücken. Manchmal meinte sie, von einem Ast angerempelt zu werden, obwohl nicht einmal eine sanfte Brise wehte. Hin und wieder hörte sie Geraschel im Unterholz. In jedem anderen Wald hätte sie dies Eichhörnchen zugeschrieben. Aber hier? Sie wollte nicht einmal darüber nachdenken.
Sie spürte die Wachsamkeit des Waldes, als hätte er alle anderen Tätigkeiten eingestellt, um sie zu beobachten. Es war nicht die Beobachtung einer einzigen, alles vereinenden Gegenwart wie bei Mornhavon, aber dennoch war der Wald auf einer bestimmten Ebene bewusst . Er griff sie nicht an, aber er türmte sich über ihnen auf wie eine gewaltige Welle, drohend, abwartend, unausweichlich. Sie fragte sich, ob die Eleter ihn zurückhielten, ob sie ihn durch ihre Anwesenheit aufhielten. Falls er es sich anders überlegte – was würde geschehen, wenn er sie nicht länger nur beobachtete, sondern über ihnen zusammenschlug, wie alle Wellen es letztlich
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