Pfad der Schatten reiter4
Coutre zurückkehren, um die Regentschaft der Provinz zu übernehmen.
Sie wollte nicht nach Coutre zurückkehren. Es erschien ihr nun wie eine Offenbarung, dass sie Zacharias sehr lieb gewonnen hatte – seine Sensibilität, seine Liebenswürdigkeit, seine Kraft. Es hatte ihr auch Spaß gemacht, sich mit den Herausforderungen der Reichsregierung vertraut zu machen, Landstreitigkeiten zwischen Bauern zu schlichten und dafür zu sorgen, dass die Truppen an den Nordgrenzen hinreichend verpflegt wurden. Jeden Tag hatte sie miterlebt, wie Zacharias mit verschlagenen Politikern umging. Er war mindestens ebenso gerissen wie sie, und sie bewunderte seinen scharfen Verstand. Außerdem stimulierten diese Probleme ihren eigenen Verstand, und sie hatte es besonders genossen, wenn sie gemeinsam nach Lösungen gesucht hatten. Oft hatten sie nach einem anstrengenden Tag voller Versammlungen und Audienzen beim Tee über alles diskutiert und alles gemeinsam analysiert.
Vermutlich würde sie in Coutre ähnlichen Herausforderungen begegnen, aber dann wäre er, Zacharias, nicht da. Es wäre nicht dasselbe.
Sie sah ihn an und fragte sich, wieso irgendjemand ihm ein Leid zufügen wollte. Er war ein gerechter König, ein guter Mensch. Heute hatte er sich selbst der Gefahr ausgesetzt, damit der Attentäter ihr nichts antun konnte. Er hatte sie mit seinem eigenen Körper abgeschirmt. Ob er jetzt heil und gesund wäre, wenn er das nicht getan hätte?
Die Waffen hatten angedeutet, dass sie aufgrund ihrer ersten Untersuchungsergebnisse annahmen, beide Pfeile seien für Zacharias bestimmt gewesen. Wahrscheinlich wäre er in jedem Fall getroffen worden, ob er sie nun beschützt hätte oder nicht. Der Tod ihres Vaters war reiner Zufall.
Im schwindenden Licht glitzerten Schweißtropfen auf Zacharias’ Stirn, wo normalerweise sein Silberreif ruhte. Er murmelte etwas Unverständliches. Estora neigte sich zu ihm
und berührte seine Wange mit ihrem Handrücken. Er fühlte sich heiß an. Sie stand von ihrem Stuhl auf und eilte ins Vorzimmer. Dort fand sie Meister Destarion zusammen mit Colin, General Harborough und ihrem Vetter. Sie steckten die Köpfe zusammen und waren in ein intensives Gespräch vertieft. Sie wunderte sich kurz, wo Hauptmann Mebstone wohl war.
»Meister Destarion?«
Die Gruppe fuhr auseinander, und alle wandten sich ihr zu.
»Ja, Herrin?«
»Ich glaube, er hat Fieber.«
Destarion eilte ins Schlafgemach, dicht gefolgt von seinen Helfern. Estora wollte ihnen folgen, aber Colin sprach sie an.
»Herrin«, sagte er, »darf ich mit Euch reden?«
»Ja, natürlich.«
Colin reichte ihr die Hand und führte sie zum nächsten Stuhl. »Dies war ein äußerst schwieriger Tag, und als stellvertretender Kastellan möchte ich Euch im Namen des ganzen Reiches mein tiefstes Beileid zum Tod Eures Vaters aussprechen. Er war ein guter Lordstatthalter, das Volk von Coutre hat ihn geliebt, und ich weiß, dass alle Ostprovinzen gern seinem Rat folgten.«
Estora nickte und wusste, dass diese Worte ehrlich gemeint waren und der Wahrheit entsprachen.
»Ich habe die königlichen Todeschirurgen gebeten, nach Euren und den Wünschen Eurer Mutter mit den sterblichen Überresten Eures Vaters zu verfahren.«
»Danke.« Es war eine große Ehre, dass sich die königlichen Todeschirurgen ihres Vaters annehmen wollten. Normalerweise beschränkten sich ihre Dienste auf direkte Mitglieder der Königsfamilie; nur ab und zu kümmerten sie sich auch um andere, besonders hochgestellte Persönlichkeiten. Hätte Colin ihr ihre Dienste nicht angeboten, hätten sie und ihre Mutter
einen angemessenen Leichenbestatter im Adelsviertel ausfindig machen müssen, und das wäre mitten in ihrem Kummer sehr beschwerlich gewesen.
»Wir sind Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Staatsrat Dovekey«, sagte Richmont zu Colin. »Lord Coutre war ein großer Mann. Für mich war er wie ein Vater.«
Colin verneigte sich. Dann sagte er zu Estora: »Für Euch war all dies doppelt schwer, denn nun liegt auch Euer Verlobter verwundet darnieder, und wir wissen nicht, wie es für ihn ausgehen wird.«
Estora begann sich zu fragen, worauf Colin wohl abzielte, denn sie hatte ihn noch nie so viele Worte auf einmal sprechen hören. Sie warf Richmont einen Blick zu. Er wirkte eifrig, und sie wurde sehr misstrauisch. General Harborough stand einige Schritte entfernt und beobachtete den ganzen Vorgang.
»Sie können mir ebenso gut direkt sagen, worauf Sie hinauswollen«, sagte Estora. »Es ist
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