Pfad der Schatten reiter4
Mitgefühl, nicht einmal, als der Mann das Messer im Rücken des Reiters herumdrehte. Der Mund des jungen Mannes öffnete sich zu einem lautlosen Schrei, während er auf die Knie fiel und im Schnee zusammensackte. Irgendeine Mutter hatte gerade ihren Sohn verloren. Genauso hatten die Mütter des Reiches an die heidnischen Sacorider ihre Söhne verloren, viele Söhne.
Nein, sie empfand kein Mitgefühl, als er in den Schnee fiel und scharlachrotes Blut aus seinem Munde strömte. Ein Feind des Zweiten Reiches war tot, und das war stets ein Grund zur Freude.
»Mach die Botschaft fertig«, sagte Birch. »Die Pferde der Grünlinge sind schlau – dieses wird direkt zum König laufen.«
Es gab Gelächter, und dann konnte Großmutter nichts anderes mehr sehen als Schnee, Schneeflocken, die in allen Richtungen herumwirbelten. Die Vision erlosch, und sie war allein im Dunkeln. Das einzige Licht stammte von einer Kerze, die Cole auf der anderen Seite der Höhle angezündet hatte. Er brachte sie zu Großmutter herüber, und alle starrten auf das tote Lagerfeuer. Die Höhle stank nach feuchtem Ruß.
Sarat griff nach der Schöpfkelle im Kessel, konnte sie aber nicht herausziehen. »Was hast du getan, Großmutter?«, schimpfte sie. »Der Eintopf ist gefroren.«
»Oh weh«, antwortete Großmutter. Wieder einmal hatte die Unberechenbarkeit des Waldes ihren Zauber verzerrt. »Es tut mir leid, Kind. Wir werden das Feuer wieder anzünden müssen, um ihn aufzutauen.«
Während Cole seine Kerze benutzte, um neuen Zunder anzufachen, nahm sich Großmutter vor, das nächste Mal bis nach dem Abendessen zu warten, bevor sie eine Beschwörung begann. Aber das, was sie gerade gesehen hatte, war wesentlich befriedigender als jede Mahlzeit.
BIRCHS BOTSCHAFT
Karigan seufzte erleichtert auf, als Kondor den letzten Hügel des Kurvenwegs hinauftrottete und die Burgtore endlich in Sicht kamen. Fast an jedem Tag ihrer Rückreise hatten sie mit unbeständigem Wetter kämpfen müssen, das von Schnee über Graupel zu Regen wechselte, um dann doch wieder Frost zu bringen.
Ironischerweise war das Wetter an diesem letzten Reisetag warm und hell, auf den kopfsteingepflasterten Straßen zerschmolz der Graupel zu Pfützen, und viele Bewohner von Sacor-Stadt tummelten sich im Freien, um den Sonnenschein zu genießen, der ihnen so lange verwehrt gewesen war.
Unmittelbar vor dem eigentlichen Tor fand sie den Weg von einem Eselkarren versperrt. Käfige waren darauf aufgestapelt, in denen Hühner gackerten und kreischten, und eine Milchkuh, die hinten an den Karren gebunden war, käute friedlich wieder. Der Besitzer des Karrens saß auf einer alten Stute und war in einen Streit mit den Torwächtern verwickelt.
Karigan konnte nicht genau hören, worum es ging, außer, dass die Wächter dem Mann keinen Einlass gewähren wollten. Nun war sie ihrem Ziel so nahe und wurde doch wieder aufgehalten. Zumindest trug sie keine dringende Botschaft, also ergab sie sich in ihr Schicksal und wartete. Die Sonnenstrahlen fühlten sich auf ihren Schultern angenehm an, und ihre Augenlider wurden schwer.
Sie schnappte Gesprächsfetzen vom Tor auf: »Ich werde
meine Mädchen nicht zurücklassen! Geht endlich und sagt dem Hauptmann, dass ich hier bin.«
Ein kühler Schatten glitt über Karigan hinweg. Schläfrig blickte sie auf und sah einen Geier, der langsam und tief kreiste. Dann wurde sie auf das Flattern schwarzer Flügel aufmerksam, als Raben auf den Torbogen landeten. Sie fragte sich, was sie wohl angelockt hatte. Wieder blickte sie zum Himmel, und ein zweiter Geier kreiste weit über dem ersten in einem Aufwind.
Das kann nichts Gutes bedeuten.
Der Mann vor ihr stritt immer noch mit den Wächtern, aber Kondor, der halb eingenickt war, hob den Kopf und reckte seine Nüstern in die Luft.
»Was ist?«, fragte Karigan ihn.
Von hinten ertönten Rufe und ein Schrei. Karigan fuhr im Sattel herum, um zu sehen, was los war. Fußgänger deuteten auf ein Pferd mit Reiter, das die Straße herauftrabte. Das Pferd schien erschöpft, und der Reiter saß steif und schief im Sattel und wurde hart herumgeschleudert, statt sich im Rhythmus des Trabs zu bewegen. Raben stießen auf ihn herab und umkreisten ihn.
Karigan blinzelte, weil die Sonne auf dem nassen Pflaster gleißte. Das Pferd hielt auf das Tor zu, und als es sich näherte, wuchs ihr Entsetzen mit jeder Sekunde.
Sie erkannte den Stern auf der Nase des Pferdes – das war Petrel, die ihrem Reiterkameraden Osric M’Grew
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