Pfad der Schatten reiter4
jemand auf ihn zukam. Er hatte Estral Andovian fast vergessen.
»Guten Morgen«, sagte sie mit ihrer angenehmer Stimme.
»Morgen«, antwortete Alton. Als sie vor ihm stehen blieb, fiel ihm auf, dass das Tageslicht das Grün ihrer Augen intensivierte.
»Er ist sehr eindrucksvoll«, sagte sie, den Blick auf den Wall gerichtet. »Man hört so viel vom Wall, aber man muss ihn sehen, um den richtigen Eindruck zu bekommen. Worte können ihn nicht genügend beschreiben.«
Das war die Wahrheit. Er beherrschte alles andere, ragte gen Himmel und verschwand in den Wolken, als hätten die Götter selbst ihn auf der Erde emporgetürmt, schroff, gewaltig, furchterregend. Der Himmelsturm ragte wie ein Speerschaft in unendliche Höhen. Doch der Wall und der Turm waren keine Schöpfung der Götter, sondern das Werk der durchaus menschlichen Vorfahren Altons. Er fragte sich, wie viele von ihnen wohl unter den Opfern gewesen waren, deren Seelen noch immer das Gestein bewohnten. Er würde es niemals erfahren, denn diese Seelen waren keine Individuen mehr. Sie waren eins geworden, vereint im Gesang, um die Stärke des Walls aufrechtzuerhalten.
»Es war die richtige Entscheidung, hierherzukommen«, murmelte Estral.
Das mochte schon sein, dachte Alton, aber trotzdem musste sie in Kürze aufbrechen. Dies war keine Touristenattraktion wie die heißen Quellen ihrer Heimatstadt Selium. Er erinnerte sich, dass einige seiner Mitbürger den Wall für ein Ausflugsziel auf dem Lande gehalten hatten – bis ein vogelähnliches Wesen wie aus einem Albtraum über die Bresche geflogen war und einen von ihnen getötet hatte. Eine Unschuldige. Eine junge Dame. Danach hatten sich die fröhlichen Ausflügler ferngehalten, und das Gesetz, das Zivilisten den Zugang zum Wall verbot, wurde erlassen. Alton war über das Gesetz erleichtert gewesen, denn die geringste Kleinigkeit rief ihm die gequälten Schreie jener jungen Frau in Erinnerung. Als er die Augen schloss, hörte er sie sogar jetzt, bis er Estral Andovians Blick auf sich spürte. Er runzelte die Stirn, als ihm klar wurde, dass sie ihn wahrscheinlich schon einige Zeit beobachtet hatte.
»Ich kann mich nicht erinnern, dass Karigan Euch als schweigsamen Grübler beschrieben hätte«, sagte sie.
Und was genau hatte ihr Karigan erzählt? Und was konnte er erwidern, das nicht abwehrend klang? Er beschloss, dass es am sichersten war, ihre Bemerkung einfach zu ignorieren.
»Ich hoffe, Euer Frühstück war zufriedenstellend?«
»Es war sehr gut. Und Dale war die perfekte Gastgeberin.«
»Gut. Nun, es hat mich gefreut, Eure Bekanntschaft zu machen, aber bestimmt seid Ihr nun aufbruchsbereit, damit Ihr das Tageslicht nutzen könnt.«
Sie starrte ihn ausdruckslos an, als wäre sie über seine Aufforderung zu gehen überrascht, obwohl er schon in der vergangenen Nacht darauf bestanden hatte.
»Ich möchte bleiben«, sagte sie.
»Das ist unmöglich, wie wir bereits besprochen haben. Ihr habt die Gefahr gesehen. Dies ist kein Ort für eine Zivilistin.«
»Aber ich bin keine Zivilistin im strikten Sinn.«
»Seid Ihr Mitglied der D’Yer-Miliz?«, fragte er.
»Nein.«
»Seid Ihr eine sacoridische Soldatin?«
»Nicht direkt.« Dann lächelte sie. Alton misstraute diesem Lächeln – es witterte Schwierigkeiten. »Der Goldene Hüter unterstützt die Streitkräfte des Königs mit ausgebildeten Musikern, die die Armee unterhalten, mit ihr marschieren und die Schlacht mit Flöten und Trommeln begleiten. Insofern sind wir technisch gesehen dem Militär angeschlossen.«
Er musste zugeben, dass sie einfallsreich war. »Keinem der beiden Lager hier sind Musiker zugeteilt. Es tut mir leid, meine Dame, aber ich bin hier im Namen meines Vaters des Kommandanten, und ich muss darauf bestehen, dass Ihr geht.«
»Na gut«, sagte sie, aber bevor Alton über ihre schnelle Einwilligung überrascht sein konnte, fragte sie: »Habt Ihr irgendwelche Botschaften für Euren Vater?«
»Für meinen Vater?«
»Ja, ich glaube, ich werde nach Waldheim reisen, um ihn zu besuchen. Ich bin relativ sicher, dass er auf die Stimme der Vernunft hören und meine Anwesenheit hier genehmigen wird. Schließlich bringe ich ihm eine offizielle Empfehlung meines Vaters. Er hat mir erzählt, dass Lord D’Yer weiß, wie wichtig geschichtliche Dokumente aus erster Hand sind.«
Das wussten sie alle, zumal so viele Einzelheiten über den Wall und die Magie seit dem Langen Krieg in Vergessenheit geraten waren, weshalb sie sich
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