Pfad der Schatten reiter4
zimperlich waren. Estral jedoch studierte die Bestie intensiv, als wollte sie sich ihr Aussehen für immer einprägen.
»Du wirst sie doch wohl nicht heute Nacht noch hinauswerfen«, sagte Dale, die sie begleitet hatte.
Hauptmann Wallace und seine Soldaten waren ihnen ebenfalls gefolgt. »Es ist stockdunkel. Kein Mond.«
»Was?«, sagte Alton. »Ich …«
»Sie kann in meinem Zelt schlafen«, sagte Dale. »Sicher steht irgendwo im Lager noch eine Pritsche.«
»Aber …«
»Es ist riskant hier«, sagte Dale, »aber es wäre weder besonders gastfreundlich noch ganz ungefährlich, sie nachts in den Wald hinauszuschicken.«
Alton sah Hauptmann Wallace Unterstützung heischend an.
»Ich stimme Reiterin Littlepage zu«, sagte der Hauptmann. »Ich bin sicher, dass es ausreicht, wenn Lady Estral erst morgen früh aufbricht.«
»Ja, ja, selbstverständlich.« Alton fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Sie musste ihn für einen Vollidioten halten, weil er darauf bestanden hatte, dass sie augenblicklich ging. Er bemerkte ein Glimmen in ihren meergrünen Augen und sah weg. »Morgen früh wird angemessen sein.«
»Sehr wohl«, sagte Estral. »Ich danke Ihnen, Reiterin Littlepage.«
»Nennt mich Dale.«
»Gut, Dale. Und ich möchte bitte von niemandem mehr ›Lady dies und Lady das‹ hören.«
Dale und Estral spazierten Arm in Arm davon und plauderten wie alte Schulfreundinnen.
»Ich werde heute Nacht aufspielen«, hörte er Estral sagen.
»Ein bisschen Unterhaltung würde uns helfen, die Geschehnisse der heutigen Nacht zu vergessen«, sagte Hauptmann Wallace zu Alton.
Estral sang tatsächlich in dieser Nacht und begleitete sich auf einer kleinen Reiselaute; ihre Stimme war klar und fest. Sie sang tröstliche Lieder, die die Menschen im Lager nicht traurig machten. Sie sang auch Lieder über die Kraft und die Heldentaten großer Krieger aus vergangenen Epochen.
Alton fand ihren Gesang und ihr Spiel ermutigend und merkte, dass es viel zu lange her war, seit er Musik von solcher Qualität gehört hatte. Auch musste er zugeben, dass es interessant war, jemanden aus Karigans »anderem Leben« kennenzulernen, jemanden, den sie gekannt hatte, lange bevor sie eine
Grüne Reiterin geworden war. Wie war sie in jenen Tagen wohl gewesen? Oh ja, er hatte mitbekommen, dass sie nicht die beste oder fügsamste Schülerin in Selium gewesen war, aber welche Einzelheiten würde Estral erzählen können, wenn man sie darum bat? Welche Einzelheiten, die nur ihre beste Freundin wissen konnte?
Die Versuchung war groß, Estral zu erlauben zu bleiben. Die Götter wussten, dass sie alle ein bisschen musikalische Unterhaltung brauchen konnten, und auch die Geschichten, die sie ihnen würde erzählen können, aber er durfte nicht zulassen, dass diese Wünsche seine Vernunft trübten. Nein, Estral musste gehen. Der Wall war kein Ort für Zivilisten, ob sie nun Musiker waren oder nicht.
Mitten in ihrer Darbietung holte Alton sein Pferd Nachtfalke, um zum zweiten Lager am Himmelsturm zu reiten. Als er aufstieg, hätte er nicht sagen können, welche Ballade Estral gerade sang, aber der Klang ihrer Laute in Verbindung mit dem Ton ihrer Stimme erweckte etwas in ihm. Brachte etwas zum Mitschwingen. Nicht nur das, sondern ihm schien fast, dass die Stimmen im Wall die Melodie mitsummten.
Er schüttelte den Eindruck ab und ritt auf Nachtfalke davon, und die Musik verklang hinter ihm.
WAS KARIGAN SAGTE
Am nächsten Morgen frühstückte Alton allein, trat aus seinem Zelt und dehnte Rücken und Schultern. Das Wetter war schön, und wenn es so weiterging, war bald kein Schnee mehr übrig. Die späte Winterkühle frischte die Luft auf, und er atmete tief durch. Die meisten Bewohner des Lagers waren bereits wach und mit ihren diversen Pflichten beschäftigt. Alton hörte den Klang einer Axt beim Spalten des Holzes für die Kochfeuer und das Kling-Kling-Kling der Werkzeuge eines Schmieds, der in der Nähe des Pferchs an einem Hufeisen arbeitete. Er fing Bruchstücke von Gesprächen der Wachposten am Wall auf und hörte das Schwappen eines Eimers, den jemand irgendwo hinter einer Zeltreihe ausleerte.
Er machte seine Pläne für den heutigen Morgen und beschloss, dass er den Himmelsturm betreten und noch einmal Theanduris Silberholz’ Buch studieren wollte. Er befürchtete, etwas Wichtiges übersehen zu haben, irgendeinen Hinweis, der ihm vielleicht dabei half, die Bresche im Wall zu reparieren.
Am Rande seines Sichtfeldes bemerkte er, dass
Weitere Kostenlose Bücher