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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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ich, dass ihre Wachen die Spione von Lord Solek waren. Die Hände der Königin packten die Mauer fest. Der Wind zerrte an ihrem Haar und ihrem Kleid. Sie hatte Gewicht verloren, und in ihren dunklen Augen stand eine wilde Verzweiflung. Sie sagte: » Roger, ich habe Arbeit für dich.«
    » J…ja, Euer Gnaden.«
    » Du wirst den Pfad der Seelen betreten und nachsehen, ob es im Land der Toten einen Neuankömmling gibt, einen Boten von der Braut meines Sohnes.«
    » Euer Gnaden, ich wollte es Euch schon so oft erklären … das Land der Toten ist ein so großer Ort, und wenn man eine bestimmte Person sucht …«
    » Dennoch wirst du ihn finden. Er wird klein sein, damit er schnell reiten kann, und er wird Gelb tragen, die Farbe des Hofes von Königin Isabelle. Du wirst ihn fragen, wann ihre Armee hier eintrifft.«
    » Euer Gnaden … Ihr geht davon aus, dass ein solcher Bote nicht nur ausgesandt wurde, sondern inzwischen auch tot ist …«
    » Er muss tot sein, sonst wäre er hier. Oder Isabelles Armee wäre hier.«
    Und sie bedurfte dieser Armee. Ihre Bedürftigkeit zeigte sich in jeder Linie ihrer steifen Haltung, in ihrem angespannten Gesicht. Nur eine Armee, der sie Befehle erteilte, konnte derjenigen etwas entgegensetzen, die Lord Solek anführte, der Bettgefährte, der sich ihr Königinnenreich unter den Nagel riss. Die Armee von Königin Isabelle, durch die Heirat mit Prinz Rupert an Königin Caroline gebunden, besaß gewiss nicht die Gewehre, die Lord Soleks Männer hatten, aber die Gelben hatten den Ruf, die besten Soldaten der Welt zu sein. Wenn Königin Isabelle eine Tochter gebar, würde diese Prinzessin an zweiter Stelle in der Erbfolge für die Krone von Gloria stehen, gleich nach der kränklichen Prinzessin Stephanie. Königin Caroline hatte einen starken Anspruch auf die Armee ihrer Schwägerin, der über die Zuneigung ihres Bruders hinausging. Und sie hatte schon vor einiger Zeit nach der gelben Armee geschickt, hatte ihre vermutete Ankunftszeit sorgfältig in ihren großen Plan eingepasst. Wo also war sie geblieben?
    Ihre Lage war mir vollkommen klar. Die meine ihr wie immer nicht. Einen einzelnen Boten im Land der Toten zu finden – falls er überhaupt dort war! –, wäre unmöglich. Ich hatte die Königin schon früher angelogen und war damit durchgekommen – aber was, wenn mich eine weitere Lüge verriet?
    » Du wirst den Pfad der Seelen jetzt betreten, genau hier«, sagte die Königin zu mir. » Nicht in meinen Privatgemächern – gleich hier auf dem Turm. Ich habe Lord Solek bereits mitgeteilt, dass mein Narr manchmal Anfälle erleidet.«
    Anfälle? Und sie hatte kein Vertrauen mehr in die Sicherheit ihrer eigenen Privatgemächer. Gab es dort Gucklöcher? Sogar in ihrem Schlafgemach? Die Dinge standen noch schlechter für sie, als ich vermutet hatte.
    Als wollte sie meine Furcht bestätigen, sagte die Königin mit einer leisen Stimme, die sich gegen ihren Willen von ihr zu lösen schien: » Er hat vor, Prinzessin Stephanie bis zu ihrer Verheiratung in sein barbarisches Heimatland zu schicken. Roger – dort herrschen Männer!«
    Meine Augen wurden so groß, dass der Wind auf dem Turm mir Tränen über die Wangen trieb. Männer herrschten nicht; sie konnten kein Leben schenken, sondern es nur verteidigen. Ich – jeder bei Hofe – war davon ausgegangen, dass Lord Solek auf Anweisung einer nicht weiter bekannten barbarischen Königin handelte. Aber wenn Männer herrschten … und wenn eine zukünftige Königin fortgeschickt wurde – das war undenkbar! Eine Prinzessin oder Königin verließ ihr Königinnenreich nur einmal, auf ihrer Hochzeitsreise, um persönlich die Mitgift zu inspizieren, die ihr Ehemann ihr brachte. Danach war ihr Platz in ihrem eigenen Palast, ohne Ausnahme. Prinzessin Stephanie war erst drei; sie würde aufwachsen, ohne das Königinnenreich überhaupt zu kennen, über das sie eines Tages herrschen musste. Ihre Treue würde dem Reich der Wilden gelten, nicht ihrem eigenen. Sie könnte sogar ihre Muttersprache vergessen.
    » Ich kann Lord Solek nicht dazu bringen, es zu verstehen«, sagte die Königin, nach wie vor mit jener gleichen leisen Stimme, obwohl wir beide wussten, dass Lord Solek nur zu gut verstand. » Geh jetzt, Roger, und finde den Boten von Isabelle. Du solltest jetzt einen Anfall haben, gleich hier!«
    Ich sollte einen Anfall haben! Wie bekam man einen Anfall? Ich hatte noch nie einen Anfall gehabt. Die Hand der Königin strich über meine; ihre Finger ließen

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