Pfad des Tigers - Eine unsterbliche Liebe: Roman (German Edition)
geschnitzte Vertiefung neben dem Tor. Meine Haut glühte, wurde durchsichtig und pink, während sich das Tor flimmernd öffnete. Kishan und ich sahen uns an, und mit einem Schlag erfüllte mich Traurigkeit – es fühlte sich wie ein Abschied an. Kishan zog einen Handschuh aus, drückte mir seine warme Handfläche auf die Wange und betrachtete eingehend und ernst mein Gesicht. Lächelnd umarmte ich ihn.
Eigentlich hätte die Umarmung ganz kurz und harmlos sein sollen, aber er zog mich fest an sich. Plump entwand ich mich seinen Armen, streifte die Handschuhe über und trat durch das Tor in einen sonnigen Tag auf dem Mount Everest. Meine Winterstiefel knirschten auf dem weißen, funkelnden Schnee, während Kishan mir durch das Tor folgte und sich in den schwarzen Tiger verwandelte.
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H eim k eh r
N achdem wir das Tor passiert hatten, drehte ich mich um und beobachtete, wie Shangri-La in einem wirbelnden Nebel aus Farben verschwand. Das rote Licht, das in dem Handabdruck pulsierte, verblasste allmählich, und das Geistertor nahm seine frühere Gestalt an – zwei hohe Holzpfeiler mit langen Schnüren und Gebetsflaggen, die in der Brise flatterten.
Ich blinzelte mehrmals und rieb mir die Augen. Etwas klebte an meinen Wimpern. Vorsichtig entfernte ich einen durchsichtigen grünen Film, der sich wie eine Kontaktlinse von den Augen löste.
Kishan schien seiner Tigergestalt treu bleiben zu wollen, ähnlich wie Ren damals nach Kishkindha. Er zwinkerte heftig, und ich sah, wie sich der grüne Film auch von seinen Augen schälte.
»Halt still. Ich werde das hier entfernen, oder es wird dich die ganze Zeit stören.«
Ich schulterte den Rucksack und begann den steilen Abstieg zurück zu Mr. Kadams Lager. Die Sonne schien, aber es war dennoch kalt. Dieselbe brennende Energie wie zuvor schob mich unermüdlich vorwärts. Ich wollte keine Pause einlegen, auch wenn Kishan mich immer wieder zu einer überreden wollte. Ich beharrte darauf weiterzuwandern und gönnte uns erst Ruhe, als es zu dunkel wurde, um die Hand vor Augen zu erkennen.
Da Hugin mir geholfen hatte, meine Gedanken zu klären, war mein Verstand geschärft wie nie zuvor. Ich dachte angestrengt nach und heckte einen Plan aus. Ich wusste, wie man Ren retten konnte. Allerdings wusste ich nicht, wo er zu finden war. Ich hoffte, dass Mr. Kadam etwas über die Kultur oder gar den Aufenthaltsort der Menschen wusste, die ich in der Vision gesehen hatte.
Die körperlichen Merkmale, die mir aufgefallen waren, mochten womöglich nicht ausreichen, doch es war alles, was wir hatten. Wenn es jemandem gelingen würde, eine Spur zu finden, dann Mr. Kadam. Außerdem hoffte ich inständig, dass die Zeit stillgestanden hatte oder zumindest langsamer vergangen war, während wir in Shangri-La gewesen waren. Ich wusste, dass Ren als Lokeshs Gefangener ununterbrochen gefoltert wurde. Allein der Gedanke, dass er überhaupt Schmerzen erleiden musste, war unerträglich, aber wenn ich mir vorstellte, wie viele Tage wir in der Welt jenseits des Geistertors verbracht hatten …
In jener Nacht lag ich lange wach und überdachte meinen Plan, den ich auf Herz und Nieren prüfte. Ich durfte nicht zulassen, dass Lokesh eine weitere Geisel nahm. Doch wir würden ihm das Amulett nicht geben. Wir würden Ren retten und alle wohlbehalten nach Hause zurückkehren.
Am nächsten Morgen verwandelte Kishan sich in einen Menschen. Hastig ließ ich ihm eine neue Schneemontur anfertigen, und er zog sich im Zelt um, während ich uns Frühstück zubereitete. Bald gesellte er sich in seiner neuen Kleidung zu mir, einem winddichten rostbraunen Hemd, das sich unter einer schwarzen wasserabweisenden Jacke eng an den Körper schmiegte, einer schwarzen Hose mit elastischen Bündchen, warmen, gefütterten Handschuhen, dicken Wollsocken und Schneestiefeln.
Es stellte sich heraus, dass das Göttliche Tuch Kishan von nun an sechs weitere Stunden seines Tigerdaseins ersparte. Mit dem Erlangen der Goldenen Frucht und des Tuches war unsere Aufgabe zur Hälfte erledigt. Die Tiger konnten zwölf Stunden am Tag Menschengestalt annehmen.
Obwohl ich es schrecklich eilig hatte, ermahnte mich Kishan, dass wir uns mindestens zwei Tage nehmen müssten, den Berg hinabzusteigen. Als wir am zweiten Abend unser Lager aufschlugen, entschied ich, es wäre an der Zeit, mit ihm über meinen Rettungsplan zu reden und ihm zu zeigen, was das Tuch noch konnte. Ich öffnete den Reißverschluss meines Schlafsacks und breitete ihn auf dem
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