Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
konzentrieren.«
Sie nickte. »Zuerst den Amerikaner. Kennen Sie ihn?«
»Nicht gut, aber ich habe seine Bekanntschaft gemacht. Mir schien er recht anständig.«
»Aber wäre ihm zuzutrauen, den Fund eines anderen zu stehlen?«
»Schwer zu sagen. Ein Fund wie dieser würde selbst den Ehrlichsten verleiten. Falls McGowan das Siegel hat …« Er überlegte. »Es könnte über Umwege in seinen Besitz gelangt sein. Er kam mir bislang nicht wie ein Dieb vor.«
Gabriella stand auf und fing an, vor dem Schreibtisch hin und her zu gehen. »Er ist noch nicht in London eingetroffen, wird aber dieser Tage erwartet.«
Nathanial staunte. »Warum sollte McGowan nach London kommen?«
»Aus demselben Grund, aus dem Sie in London sind.«
»Seine Schwester wird in die Gesellschaft eingeführt?«
Sie verdrehte die Augen. »Ich vergesse immer wieder, dass Sie aufgrund Ihres familiären Vermögens die Sorgen anderer auf Ihrem Gebiet nicht teilen.«
Für einen Moment wirkte er konfus, dann schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Natürlich! Das Gutachterkomitee trifft sich diese Woche. Jeder, der bedeutende Funde gemacht hat oder Geldgeber für eine Expedition braucht, wird in London sein.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Es ist ein Jahr her, dass Ihr Bruder …«
»Ja«, fiel sie ihm ins Wort. »Da McGowan noch nicht hier ist, würde ich empfehlen, mit Lord Rathbourne zu beginnen. Ich vermute, Sie kennen ihn.«
»Zu behaupten, ich würde Lord Rathbourne kennen, wäre eine Übertreibung«, entgegnete Nathanial hörbar vorsichtig. »Mir ist bekannt, welchen Status er als Sammler besitzt, nicht nur von antiken Kunstgegenständen, sondern auch von neuerer Kunst und anderen Wertgegenständen. Außerdem …«
»Ja?«
»Er heiratete die Frau, die mein Bruder liebte.«
Gabriella staunte. »Der Earl?«
Er nickte.
»Ich dachte, er wäre verwitwet.«
»Ist er, aber …« Nathanial trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch, als müsste er noch entscheiden, wie viel er ihr erzählen durfte. »Größtenteils ist es ohnehin bekannt, schätze ich, und es liegt alles lange zurück. Zehn Jahre, wenn ich nicht irre. Sterling liebte Olivia, Lady Rathbourne. Man ging davon aus, zumindest in dieser Familie, dass sie heiraten würden. Eines Tages jedoch hörten sie auf, sich zu verabreden, und am nächsten Tag heiratete sie Lord Rathbourne. Wenige Tage später verlobte Sterling sich mit Alice, sehr zur Freude beider Familien, ihrer wie unserer.«
»Sie starb schon im ersten Ehejahr, nicht?«
»Ja.« Er sah sie misstrauisch an. »Woher wissen Sie davon?«
»Wahrscheinlich habe ich es in der Antikengesellschaft gehört«, antwortete sie. »Wie Sie sagten, ist es allgemein bekannt.«
»Ich glaube, Sterling wird nie darüber hinwegkommen.«
Sie nickte. »Über den Tod seiner Frau.«
»Ja, selbstverständlich«, sagte er rasch. »Das meinte ich.«
Gabriella überlegte. »Dann kennen Sie Lady Rathbourne?«
»Könnte man sagen. Obwohl ich seit Jahren nicht mit ihr gesprochen habe.«
»Denken Sie nicht, es wäre an der Zeit, ihr einen Besuch abzustatten, um der alten Bekanntschaft willen?«
»Und was schlagen Sie vor, das ich sage? Guten Tag, Lady Rathbourne. Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Ach, wussten Sie, dass Sie meinem Bruder das Herz brachen, wovon er sich nie ganz erholte, und übrigens wüssten wir gern, ob Ihr Gemahl, der Mann, für den Sie meinen Bruder verließen, ein Dieb ist?«
»Nun sind Sie albern, Nathanial«, schalt sie ihn. »Wir drücken es selbstverständlich nicht so drastisch aus.«
»Ach nein? Und wie drücken wir es dann aus?«
»Ich denke, wir sollten Lady Rathbourne besuchen und sie fragen, ob sich in der Sammlung ihres Gemahls ein kürzlich erworbenes akkadisches Zylindersiegel befindet«, erklärte sie lächelnd.
»Sind Sie wahnsinnig?«
»Ich glaube nicht. Halten Sie den Vorschlag für wahnsinnig?«
»Welchen Grund wollen wir für unseren Besuch nennen? Abgesehen von der absurden Idee, die Bekanntschaft erneuern zu wollen.«
»Ich weiß es nicht.« Sie ging wieder auf und ab und versuchte nachzudenken. »Gewiss fällt uns noch ein plausibler Vorwand ein. Wir sind schließlich beide nicht dumm.«
»Sie haben keinen Plan, stimmt’s?« Er stand auf. »Sie haben nicht die geringste Ahnung, wie Sie die Suche nach dem Siegel anstellen sollen, habe ich Recht?«
Sie verzog das Gesicht. »Ich vermute, man könnte sagen, sofern man kleinlich auf nichtige Details fixiert ist …«
»Man
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