Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
aufgehalten.«
Florence bedachte sie mit einem tadelnden Blick. »Es ist meine Aufgabe.«
»Die du vorbildlich erfüllst. Deshalb konnte ich dir nichts sagen.«
»Hmm.« Florence dachte offenbar über weitere Beispiele nach. »Und du hast mir nicht erzählt, dass du den Lehmabdruck des Siegels hast.«
»Nein, aber …«
Florence beäugte sie streng. »Gabriella?«
»Da gibt es ein kleines Problem«, murmelte Gabriella.
»Ein Problem?«
»Eigentlich nur ein Definitionsproblem. Mehr nicht.«
»Erkläre es mir bitte.«
»Der Abdruck ist im Moment eigentlich nicht in meinem Besitz«, gestand Gabriella zerknirscht.
»Aha. Und weißt du, wo er sein könnte?«
»Ich bin sicher, dass er in London ist, und gewiss direkt vor unseren Augen.«
»London ist eine ziemlich große Stadt.«
»Er muss hier im Haus sein«, sagte Gabriella überzeugter, als sie sich fühlte.
»Aber du weißt es nicht.«
»Nein, doch ich bin recht zuversichtlich.« Sie setzte sich neben Florence auf das Sofa. »Es ergäbe keinen Sinn, wäre er an einem anderen Ort. Enrico sagte mir, er würde ihn dort lassen, wo er sicher wäre. Wo er, wie er meinte, alles aufbewahrte, was er für wertvoll hielt. Er muss im Haus sein.« Sie lächelte wehmütig. »Wie du dich wohl erinnern wirst, war mein Bruder noch weniger vertrauensvoll als ich.«
»Ja, wie könnte ich das vergessen.« Florence dachte nach. »Bestünde die Möglichkeit, dass er ihn in einem Bankschließfach verwahrt hat?«
»Nein, er hatte keines, soweit ich weiß. Ich habe bereits bei der Bank nachgefragt.«
»Nach seinem Tod. Sehr vernünftig.«
»Genau genommen schon vorher«, sagte Gabriella und wurde rot. »Als seine Briefe zusehends wirrer wurden, schien es mir angeraten, den Abdruck zu suchen. Ich hätte es besser wissen müssen. Enrico wollte der Bank ja kaum sein Geld anvertrauen.« Mein Geld. »Wusstest du, wie viel Geld wir besaßen?«
»Nein, ich ahnte es nicht einmal. Andernfalls hätte ich zweifellos um höheren Lohn gebeten. Ich glaubte mich ja in Stellung bei einem Archäologen, der mit knapper Not die Hypothek bezahlen konnte, nicht bei einem Schatzsucher von beträchtlichem Vermögen. Er sagte nie ein Wort.« Leise fügte sie hinzu: »Dein Bruder war ein Mann voller Geheimnisse.«
»Ja, der war er.«
Florence schwieg eine Weile, als wollte sie ihre Worte sorgsam abwägen. »Bei den wenigen Besuchen hier in London, haben dein Bruder und ich oft lange Gespräche geführt. Manchmal sprachen wir über dich, manchmal über die politischen Aspekte bei Verhandlungen mit Museen oder der Antikengesellschaft, aber zumeist redeten wir über sein Leben, seine Arbeit. Über Dinge, der er auf der Suche nach antiken Kunstgegenständen gesehen oder getan hatte. Ich denke, ich war der einzige Mensch, mit dem er darüber sprechen konnte. Er hatte wenige Freunde, musst du wissen, und wenige, denen er sich anvertrauen konnte. Bisweilen schien es mir, als wäre ich sein Beichtvater.« Sie holte tief Luft. »Vor langer Zeit bildete ich mir sogar vorübergehend ein, ich wäre in ihn verliebt.«
Gabriella staunte. »Ach ja?«
»Wie gesagt, es war nur eine momentane Illusion, sonst nichts. Ich war klug genug, mein Herz nicht an einen Mann wie deinen Bruder zu verlieren.«
Was Florence nicht aussprach, musste keine von beiden laut sagen. Enrico hatte sich für jede Art von Frauen begeistern können. Schon als Gabriella noch ein Kind war, waren oft Frauen in seinem Zimmer oder seinem Zelt gewesen. Sie schienen für ihn so notwendig wie Essen und Trinken. Erst Jahre später hatte Gabriella begriffen, dass sein Verhalten nicht das eines ehrbaren Mannes gewesen war.
»Wenn überhaupt, waren dein Bruder und ich so etwas wie Freunde. Da er mir die Fürsorge für dich übertrug, hielt er mich wohl für seines Vertrauens würdig, obwohl er anderen noch weniger vertraute als du. Ich glaube, seine Euphorie über den Siegelfund ließ ihn erstmals seine übliche Vorsicht in derlei Angelegenheiten vergessen, und er zeigte den Abdruck jenen Männern, die du nun des Diebstahls verdächtigst.«
»Ich vertraue dir«, wiederholte Gabriella. »Und ich brauche deine Hilfe.«
»Aha?«
»Eine längere Abwesenheit von Harrington House würde Misstrauen erregen. Ich bin nur hier, weil Nathanial mich in seiner überbordenden Arroganz in seine Kutsche setzte und dem Fahrer befahl, mich zu seinem Haus zu bringen. Er dachte, ich würde auf direktem Wege dorthin fahren.«
»Was für ein Narr«, murmelte
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