Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Florence.
Gabriella ignorierte sie. »Ich muss dich bitten, das Haus zu durchsuchen, jede Nische und jeden Winkel.« Sie sprang auf und lief abermals hin und her. »Der Abdruck muss hier sein. Er kann an keinem anderen Ort sein.«
»Es ist kein besonders großes Haus, Gabriella, trotzdem kann es hier unzählige Verstecke geben. Selbst wenn er hier ist, könnte er dennoch unauffindbar sein. Ich werde Miriam bitten, mit mir zu suchen, und wir werden unser Bestes tun.« Sie betrachtete Gabriella nachdenklich. »Aber warum in aller Welt hast du behauptet, ihn zu haben?«
»Ich weiß nicht«, seufzte Gabriella und strich sich eine verirrte Locke aus dem Gesicht. »Ich brauchte einen Beweis, dass das Siegel Enricos ist, wenn es gefunden wird. Die Worte kamen mir quasi von selbst über die Lippen.«
»Das ist das Heikle an jedweder Täuschung, meine Liebe. Die erste Lüge ist linkisch, schwierig und häufig mit einer Menge Schuld verbunden. Die zweite wird ein wenig einfacher, die dritte noch leichter. Und schließlich«, Florence sah Gabriella an, »erscheint uns die Täuschung weit unkomplizierter als die Wahrheit.«
Gabriella verschränkte die Arme vor der Brust, um ihr Unbehagen zu überspielen. Ja, die Lüge wegen des Abdrucks war ihr verblüffend leichtgefallen, hatte keinerlei Überlegung bedurft und war erst recht nicht mit Schuld einhergegangen. »Soweit lasse ich es nicht kommen.«
Ihre Freundin zweifelte sichtlich. »Nein, lasse ich nicht«, beharrte Gabriella. »Ich war stets ehrlich. Es ist nur so, dass unter den gegebenen Umständen … nun, Ehrlichkeit nicht unbedingt einfach ist.«
»Das ist sie nie, Gabriella. Bedenke aber, dass der Zweck nicht jedes Mittel heiligt.«
»Das musst du nicht immer wieder sagen.«
»Oh, doch, ich muss. Zumindest bist du begreifst, dass es mehr ist als ein Ausspruch, den man auf ein Kissen stickt.« Florence seufzte. »Du wirst es am Ende verstehen, aber ich fürchte, dein Bruder hat es nie verstanden.«
Gabriella war verwirrt. »Was meinst du?«
»Was ich sagte. Für deinen Bruder zählte der Erwerb, nicht die Methode, mit der er etwas in seinen Besitz brachte.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Das musst du auch nicht.« Florence wechselte rasch das Thema. »Also, wirst du dein neues Kleid zum Ball tragen?«
Dasselbe Kleid, das sie zu Lady Reginas Ball getragen hatte. »Ich möchte am liebsten nicht dorthin gehen.«
»Mag sein, aber Mr Harrington hat Recht. Es gibt nichts, wofür du dich schämen oder das du verbergen musst. Meine Teure, du gehst seit sechs Jahren zu diesem Ball, und es gibt keinen Grund, weshalb du in diesem Jahr nicht hingehen solltest, zumal du in Begleitung der Harringtons sein wirst.«
»Aber letztes Jahr …« Im letzten Jahr war der Ball wunderbar gewesen. Enrico hatte sich darauf gefreut, dem Komitee sein Siegel vorzulegen, und Gabriella hatte es geschafft, ihn zu überreden, mit ihr zum Ball zu gehen, wo sie zahlreiche Tanzpartner gefunden hatte. Dieses Jahr …
Dieses Jahr war Nathanial Harrington dort.
»Und solltest du dir ein weiteres vertrautes Gesicht wünschen …«
»Was mich erinnert«, unterbrach Gabriella sie. »Ich war ganz und gar nicht erfreut, Xerxes zu sehen – oder John, wie er nun in Harrington House genannt wird. Ich vermute, das war der Plan, den du erwähntest?«
»Nicht annähernd so raffiniert wie deiner, allerdings habe ich ja auch kaum Übung und scheine überdies nicht mit deinem Talent konkurrieren zu können«, sagte Florence streng. »Ich bin nur froh, dass sich diese Neigung bei dir in früheren Jahren nie zeigte.«
»Ja, sie scheint recht neu«, murmelte Gabriella. So gern sie es auch geleugnet hätte, war es zwecklos. Nein, ihre Lügen und Täuschungen häuften sich. Umso besser, dass es ihrer bald nicht mehr bedurfte.
Die Regeln des Gutachterkomitees waren so klar wie unumstößlich. War ein Artefakt vorgelegt und für wertlos befunden worden, blieb dem Finder bis zum Ende der Sitzung im darauffolgenden Jahr Zeit, die Entscheidung anzufechten. Letztes Jahr hatte das Komitee Enricos Fund für wertlos erklärt, weil das Siegel, das er ihnen brachte, nicht war, was er behauptete. Dass er Beweise für das echte Siegel beibringen konnte, war nicht von Belang. Es mussten schon außergewöhnliche Umstände geltend gemacht werden, wollte man den Fall nach Ablauf der Frist erneut vortragen. Gabriella wusste, dass es höchst selten geschah. Das Komitee nämlich schätzte es nicht, die eigenen Beschlüsse
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