Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
viele Hände es seither gewandert ist, ehe es in Montinis Besitz gelangte. Aber ich wusste in dem Moment, als ich Montinis Abdruck sah, dass es das Siegel aus Ashworths Truhe war.«
»Und?«
»Und«, sagte Quint und sah Nate ohne jede Reue an, »ich hatte vor, es ihm zu stehlen.«
»Was du aber nicht tatest?«
»Nein. Ich wollte, doch Gutierrez kam mir zuvor.«
»Hast du gesehen, dass Gutierrez es stahl?«
Quint lachte. »Er bemerkte mich nicht, aber ich war quasi direkt hinter ihm. Allen war bekannt, wie abergläubisch Montini in Bezug auf seine Funde war. Daher konnte man davon ausgehen, dass er das Siegel nicht auswickeln würde, ehe er es dem Gutachterkomitee zeigte. Was bedeutete, dass er den Diebstahl vorher nicht aufdecken würde.«
»Wir vermuten, dass Gutierrez im Auftrag von Lord Rathbourne handelte«, sagte Nate. »Seine Lordschaft gab Gabriella gegenüber zu, dass er versucht hatte, es zu kaufen.« Er überlegte. »Warum hat Gutierrez das Siegel nicht sofort zu Rathbourne gebracht?«
Quint schüttelte den Kopf. »Wer weiß, warum ein Mann wie Gutierrez tut, was er tut? Zum einen hätte er dafür nach London reisen müssen, und zum anderen würde mich nicht wundern, wenn Rathbourne nicht der Einzige wäre, der Gutierrez für derlei halbseidene Aufträge engagiert. Wie auch immer, für mich war es günstig. Ich habe Gutierrez beobachtet und auf eine Gelegenheit gewartet, ihm das Siegel abzunehmen. Hast du dich nie gefragt, warum wir im letzten Jahr in solch einem Zickzack reisten?«
»Nein, eigentlich nicht«, gestand Nate. »Mir kam es nicht ungewöhnlich vor.«
»Jedenfalls ergab sich meine Chance auf Kreta. Wie ich inzwischen herausgefunden hatte, war er sowohl ein Spieler als auch dem Alkohol zugeneigt. Er ist ein Mann, der seine eigenen Grenzen nicht kennt und sich einbildet, noch im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten zu sein, wenn er es längst nicht mehr ist. Es war verblüffend einfach, ihn betrunken zu machen, zu einem Kartenspiel zu überreden und ihm das Siegel abzunehmen.« Er lachte. »Ich glaube, er brauchte ein paar Tage, ehe er begriff, was er verloren hatte.«
»Wie ich hörte, war er außer sich.«
»Ja, das dachte ich mir. Soweit ich weiß, ist Montini ihm ebenfalls auf Kreta begegnet. Kurz danach hörte ich, dass Montini ermordet worden war. Man hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt.«
Nate starrte ihn an. »Das hast du nie erwähnt.«
»Du wolltest nicht darüber sprechen, was für ein Mensch Montini war. Folglich nahm ich an, du wolltest auch nicht hören, wie er zu Tode kam.«
»Du hättest es mir sagen können. Auch wenn es wohl nichts mehr ändert. Also … Wo ist das Siegel?«
Quint zögerte, bis er schließlich nachgab. »Auf dem Dachboden.«
Nate sprang sofort auf. »Dann gehen wir es holen.«
»Darf ich mich wenigstens vorher fertig ankleiden?« Quint stopfte sich gerade das Hemd in die Hose.
»Nein«, antwortete Nate und war schon auf dem Weg zur Tür.
»Mutter wird nicht gefallen, mich ohne Gehrock zu sehen«, ermahnte Quint ihn.
»Deshalb sollten wir dafür sorgen, dass sie dich nicht sieht.«
Nate ging voraus die Treppe hinauf zu den Bedienstetenzimmern und von dort weiter zur Bodentreppe. Quint war wenige Schritte hinter ihm.
»Was hattest du mit dem Siegel beabsichtigt? Wolltest du versuchen, Ambropia zu finden?«
»Nein«, sagte Quint in einem Ton, als wollte er sich nicht weiter zu dem Thema äußern.
Nate öffnete die Bodentür und drehte sich zu seinem Bruder um. »Wo ist es?«
Quint schritt an ihm vorbei. »Ich habe es in die Truhe mit Urgroßmutters Sachen gepackt«, antwortete er schmunzelnd. »Es schien mir passend.«
Nate folgte ihm. Sein Herz klopfte schneller vor Aufregung. Er würde Gabriella das Siegel geben, sie würde es dem Gutachterkomitee vorlegen, und danach könnte er sie überzeugen, dass ihre Zukunft fortan bei ihm war. Und warum auch nicht? Schließlich wäre er ihr Held.
»Ich habe es hier gleich an dem Tag versteckt, als ich nach Hause kam.«
»An dem Tag, als Reggies Ball war?«
Quint nickte. Er drängte sich an den Vermächtnissen von Generationen Harringtons vorbei, an Mobiliar, das moderneren Stücken weichen musste, welche wiederum irgendwann hier oben endeten. Gemälde lehnten an den Wänden, und Kisten, Truhen und Kartons versperrten den Weg. Die Truhe, die Quint meinte, stand noch fast am selben Platz wie in den Kindertagen der drei Brüder. Quint klappte den Deckel auf, beugte sich hinein und fischte in dem
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