Pfand der Leidenschaft
sich Amelia, der Abend wäre bereits vorüber. In dieser herrschaftlichen Umgebung würden die Unzulänglichkeiten der Hathaways noch deutlicher zum Vorschein treten, und man würde sie bestenfalls für Landstreicher halten. Sie ließ den Blick über ihre Geschwister gleiten. Win hatte ihre gewohnte Maske aus untadeliger Gelassenheit aufgesetzt, während Leo ruhig und beinahe gelangweilt aussah – ein Ausdruck, den er von seinen neuen Bekannten aus dem Jenners gelernt haben musste. Die jüngeren Mädchen waren von einer derart überschwänglichen Vorfreude erfüllt, dass sie selbst Amelia ein Lächeln entlockten. Zumindest ihre beiden kleinen Schwestern würden sich amüsieren, und der Himmel allein wusste, dass sie es verdienten.
Merripen half den Schwestern aus der Kutsche. Leo stieg als Letzter aus und wurde von Merripen verstohlen beiseitegezogen. Eindringlich bat er ihn, ein wachsames Auge auf Win zu haben. Leo strafte ihn mit einem wütenden Blick. Amelias Kritik über sich ergehen zu lassen, war schlimm genug – von Merripen würde er ein solches Verhalten nicht dulden. »Wenn du so verdammt besorgt um sie bist«, murmelte Leo, »dann geh rein und spiel selbst Kindermädchen.«
Merripens Augen verengten sich zu Schlitzen, aber er erwiderte nichts.
Die Beziehung zwischen den beiden Männern hätte man zwar nie als brüderlich bezeichnen können, aber sie hatten stets eine kühle Höflichkeit im Umgang miteinander aufrechterhalten.
Merripen hatte nie versucht, die Rolle des zweiten Sohns einzunehmen, obwohl die Eltern der Hathaways ihn immer mit unverhohlener Zuneigung bedacht hatten. Und jeder Situation, die zu einem Wettstreit zwischen den beiden Jungen hätte führen können, war Merripen stets aus dem Weg gegangen. Leo hatte den Roma im Gegenzug stets freundlich und zuvorkommen behandelt und gelegentlich sogar auf Merripens Meinung gehört, wenn sie ihm vernünftiger als seine eigene vorkam.
Als Leo am Scharlachfieber erkrankte, hatte Merripen ihn mit einer Mischung aus engelsgleicher Geduld und unvergleichlicher Aufopferung gepflegt, die selbst Amelias Fürsorge übertraf. Später hatte sie Leo erzählt, dass er allein Merripen sein Leben verdankte. Doch anstatt froh über seine Rettung zu sein, schien Leo es ihm sogar übelzunehmen.
Bitte, bitte, sei kein Esel, Leo! , hätte ihn Amelia am liebsten angefleht, aber sie biss sich auf die Zunge und ging mit ihren Schwestern zum hell erleuchteten Eingang von Stony Cross Manor.
Zwei wuchtige Flügeltüren führten in eine riesige Halle, an deren Wänden wertvolle Wandteppiche hingen. Ein prächtiger Treppenaufgang aus Stein und Marmor wand sich zu der hoch aufragenden Galerie im ersten Stock. Selbst die abgelegensten Winkel und Ecken der Eingangshalle sowie die Durchgänge zu den Korridoren waren von schweren Kristalllüstern erleuchtet.
Wenn der Park und die Gärten schon wunderbar gepflegt wirkten, war das Innere des Herrenhauses geradezu makellos. Alles glänzte und schimmerte.
Es war, dachte Amelia düster, das genaue Gegenteil von Ramsay House.
Mehrere Dienstboten kamen herbeigeeilt und nahmen die Hüte und Handschuhe der Hathaways entgegen, während eine ältere Haushälterin die Neuankömmlinge willkommen hieß. Amelias Aufmerksamkeit richtete sich augenblicklich auf Lord und Lady Westcliff, die die Eingangshalle durchmaßen.
Gekleidet in einen maßgeschneiderten, edlen Abendanzug, bewegte sich Lord Westcliff mit der eleganten Zuversicht eines erfahrenen Jägers. Sein Ausdruck war zurückhaltend, seine ernsten Gesichtszüge eher markant als schön. Alles an seiner Gestalt ließ darauf schließen, dass er ein Mann war, der viel von anderen erwartete – und noch mehr von sich selbst.
Es stand außer Frage, dass ein so wichtiger und einflussreicher Mann wie Westcliff eine vollkommene Engländerin geehelicht haben musste, eine Frau, der eine kühle und kultivierte Erhabenheit in die Wiege gelegt worden war. Mit erstaunter Verwunderung musste Amelia dann jedoch feststellen, dass Lady Westcliff mit einem ausgeprägten amerikanischen Akzent sprach, und ihr die Worte aus dem Mund purzelten, als interessierte es sie nicht im Geringsten, was andere Menschen von ihr hielten.
»Ihr könnt Euch überhaupt nicht vorstellen, wie sehr ich mich nach neuen Nachbarn gesehnt habe. Das Leben in Hampshire kann sehr eintönig sein. Ihr
Hathaways seid eine hübsche Ablenkung.« Sie überraschte Leo, indem sie den Arm ausstreckte und ihm die Hand schüttelte,
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