Pfarrers Kinder Muellers Vieh
zurück bis zum Treppenabsatz und verbarrikadierte den Durchgang. Die Männer setzten sich nieder, Manfred und ich kletterten über das Klavier auf die andere Seite. Unten im Hausflur stand der Kirchenchor.
»Auf Adelers Flügeln getragen übers brausende Meer der Zeit...« Wie gut ich dieses Lied kannte! Im heimatlichen Kirchenchor hatten wir es so oft gesungen, daß ich es nicht mehr hören konnte. — Damals war jeden Mittwochabend Singstunde. Die Sänger saßen auf den kleinen Bänken im Kindergarten, das Notenblatt auf den Knien. Einigp schwatzten, andere hörten dem freundlichen alten Organisten zu, der auf dem Harmonium die zweite Stimme vorspielte. Beate und ich waren die Jüngsten in diesem Chor. Sie sang mit, weil ihr die jungen Männer im Chor verliebte Augen machten, ich, weil sie nicht ohne Begleitung nach Hause gehen sollte. Es war sterbenslangweilig. Jede Stimme wurde viele Male einzeln geübt, schwierige Stellen wiederholt. Ich hatte ein Buch dabei. Wenn wir wieder einmal an der Reihe waren, sang ich mit, ohne die Augen von meiner Lektüre zu wenden. Doch dann schreckte mich ein Zwischenfall aus meiner geruhsamen Langeweile und auf einmal wurde der Kirchenchor interessant.
Die Singstunde war aus. Wir hatten wie immer zum Schluß »Der Mond ist aufgegangen« gesungen. Ich sammelte die Noten ein, verabschiedete mich von dem Organisten und verließ als eine der letzten den Kindergarten. Draußen war es dunkel, aber vor mir gingen die anderen. Ich hörte sie schwatzen und lachen. Plötzlich aber verstummte dieses freundliche Geräusch, dafür erhob sich ein schrilles Geschrei und Gezeter. Vor mir stob man auseinander und drückte sich in die Dunkelheit der Hauswände. Unter der Straßenlaterne aber balgten sich zwei Gestalten. Die eine schlug wild auf die andere ein und kreischte dabei immer nur das eine Wort: »Hure, Hure, Hure!«
Die andere kroch auf dem Boden herum und rief verzweifelt: »Meine Brille, wo ist meine Brille?«
Die Sänger standen regungslos. Keiner griff ein, keiner ging fort. Auch ich stand wie gelähmt. Neben mir zog eine Frau zischend Luft durch die Zähne. »Jetzt gibt sie’s ihr«, flüsterte sie. Ein kleiner Tenor kam angelaufen. Er faßte die schreiende Frau am Arm und zog sie fort. Unter der Straßenlaterne kroch das Mädchen herum und suchte die Trümmer ihrer Brille zusammen. Die Leute kamen aus der Dunkelheit und gingen weiter. Sie machten einen Bogen um das Mädchen.
»Was ist eine Hure? Sag mir’s«, bestürmte ich meine Schwester.
»Laß mich in Ruhe, was weiß ich!« sagte sie. Wir sprachen nicht mehr darüber. Aber von da an mußte ich im Kirchenchor immer das blasse Mädchen mit der Brille ansehen, sie war so farblos und unscheinbar. Und der Mann im Tenor, klein, dicklich, mit schütterem Haar und einem verschlissenen Anzug. Was war denn an ihm so anziehendes, daß sich zwei Frauen um ihn rauften? Überhaupt diese Leute im Kirchenchor! Da saßen sie friedlich, übten Choräle, lächelten mich süßlich an und hatten die ganze Zeit davon gewußt.
Der Weidener Kirchenchor war bereits beim zweiten Lied angelangt »Stern, auf den ich schaue...« Sie sangen drei Strophen, mehr hat das Lied nicht, und hoben dann ihre Augen auf zu der Treppe, die wir hernieder kamen.
O, was mußten sie da erblicken! Einen verschwitzten jungen Mann im Overall, eine verstrubbelte Frau mit Kleiderschurz! Enttäuscht senkten sie den Blick wieder in die Noten. Der Dirigent drehte sich um, schluckte mehrmals bei unserem Anblick und sprach dann die Worte: »So seien Sie uns denn begrüßt!«
Er zog sich zurück und eine dicke Frau trat vor. Sie trug eine große Schüssel und hob stolz den Deckel. »Selbstgemacht«, sagte sie. Die Schüssel war gefüllt mit grünschimmernden Fladen. Weißerstarrte Fettaugen blinkten mir entgegen.
»Maultaschen«, rief der Schreiner über die Treppe.
»Mein Leibgericht«, sagte Manfred, und nahm die Schüssel entgegen. Ich stand etwas dümmlich daneben, versuchte ein möglichst dankbares Gesicht zu machen und überlegte, was man wohl mit diesen Maultaschen machen könnte. Manfred wußte damit umzugehen. Wir aßen vier Tage lang Maultaschen. Einmal in der Brühe, dann geschmälzt, schließlich mit Ei. Es war ein Geschenk, von dem wir lange zehrten.
Der Kirchenchor verabschiedete sich, denn schon rückte der Kirchengemeinderat an. Zehn wackere Männer, den Sonntagskittel über der Arbeitshose.
Kirchengemeinderäte —
und wie man sie bewirtet
Die
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